Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
ermunterte sich, erhob sich von seinem Heuhaufen, und ein Blick nach den Sternen zeigte ihm, daß die Nacht vergangen war.
›Was werde ich also tun? Und wie werde ich es tun?‹ sagte er zu sich selbst, in dem Bemühen, zu seinem eigenen Nutzen einen klaren Ausdruck für das zu finden, was er in dieser kurzen Nacht gedacht und empfunden hatte. Alle diese Gedanken und Empfindungen verteilten sich auf drei voneinander gesonderte Gedankengänge. Der erste betraf die Abkehr von seinem alten Leben und von seiner Bildung, die niemandem etwas nützte. Diese Abkehr gewährte ihm schon in der Vorstellung einen großen Genuß, und ihre Durchführung erschien ihm leicht und einfach. Die zweite Gruppe von Gedanken und Vorstellungen betraf das Leben, das er von nun an zu führen wünschte. Daß es ein schlichtes, reines, streng rechtliches Leben sein müsse, fühlte er mit vollster Klarheit, und er war überzeugt, daß er in ihm diejenige Befriedigung, Gemütsruhe und selbstbewußte Festigkeit finden werde, deren Mangel er jetzt so schmerzlich empfand. Sein dritter Gedankengang jedoch bezog sich auf die Frage, wie sich dieser Übergang vom alten zum neuen Leben bewerkstelligen lasse. Und hierüber vermochte er schlechterdings nicht zur Klarheit zu kommen. ›Ich muß heiraten. Ich muß eine Arbeit haben und einen äußeren Zwang zur Arbeit. Soll ich Pokrowskoje verlassen? Anderswo Land kaufen? Mich in eine Bauerngemeinde aufnehmen lassen? Ein Bauernmädchen heiraten? Wie soll ich es angreifen?‹ fragte er sich von neuem und fand darauf keine Antwort. ›Übrigens habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen und bin daher jetzt nicht imstande, mir über solche Dinge klare Rechenschaft zu geben‹, sagte er zu sich. ›Darüber werde ich später schon ins klare kommen. Aber eins ist sicher: diese Nacht hat über mein Schicksal entschieden. Alle meine früheren Träumereien von der Gestaltung des Familienlebens sind töricht, sind nicht das Richtige‹, sagte er zu sich. ›Das läßt sich alles weit einfacher und besser ausführen ...‹
›Wie schön!‹ dachte er, als er auf einmal ein seltsames Gebilde von weißen Lämmerwölkchen erblickte, das, einer Perlmuttermuschel ähnlich, gerade über seinem Kopfe mitten am Himmel stand. ›Wie entzückend alles in dieser wundervollen Nacht ist! Wann hat sich nur diese Muschel gebildet? Ich habe doch noch eben erst zum Himmel hinaufgesehen, und da war an ihm nichts vorhanden als zwei weiße Streifen. Ja, ganz ebenso unvermerkt haben sich auch meine Lebensanschauungen geändert!‹
Er verließ die Wiese und schritt auf dem breiten Landwege dem Dorfe zu. Ein leichter Wind erhob sich, und der Himmel wurde grau und düster. Es kam jetzt die trübe Spanne Zeit, die gewöhnlich der Morgendämmerung und dem vollen Siege des Lichtes über die Finsternis vorangeht.
Vor Kälte sich ein wenig zusammenkrümmend, den Blick auf den Boden geheftet, schritt Ljewin hurtig aus. ›Was ist das? Da kommt jemand gefahren!‹ dachte er, als er Schellengeläute hörte, und hob den Kopf in die Höhe. Etwa noch vierzig Schritte von ihm entfernt kam ihm auf dem breiten, grasigen Fahrwege, auf dem er ging, ein vierspänniger Wagen entgegen, auf dem er mehrere Koffer erblickte. Die Deichselpferde drängten von den Geleisen nach der Deichsel zu; aber der geschickte Kutscher, der seitwärts auf dem Bocke saß, hielt die Deichsel zwischen den Geleisen, so daß die Räder auf den glatten Streifen liefen.
Weiter hatte Ljewin auf nichts geachtet und blickte nun zerstreut in den Wagen hinein, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wer da wohl gefahren kam.
In einer Ecke des Wagens schlief eine alte Dame; am Fenster aber saß ein junges Mädchen, das offenbar eben erst aufgewacht war und mit beiden Händen die Bänder eines weißen Häubchens angefaßt hielt. Hellen, sinnenden Blicks, ganz erfüllt von einer schönen, bunten, inneren Gedankenwelt, die Ljewin fremd war, schaute sie über ihn hinweg in die Morgenröte.
Gerade in dem Augenblicke, da diese Erscheinung bereits verschwand, blickten die treuherzigen Augen des jungen Mädchens ihn an. Sie erkannte ihn, und ein frohes Erstaunen leuchtete auf ihrem Gesichte auf.
Er konnte sich nicht irren. Solche Augen gab es nur einmal auf der Welt. Es gab auf der ganzen Welt nur ein Wesen, das imstande war, für ihn alles Licht und seinen gesamten Lebensinhalt in sich zusammenzudrängen. Das war sie. Das war Kitty. Er sagte sich sofort, daß
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