Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Alexandrowitsch wußte, daß er keine moralische Einwirkung auf seine Frau auszuüben in der Lage war, und daß dieser ganze Besserungsversuch lediglich auf Unwahrhaftigkeit und Verstellung hinauslaufen werde, und obgleich er in den schweren Augenblicken, die er jetzt durchlebte, auch nicht ein einziges Mal daran gedacht hatte, in der Religion eine Richtschnur zu suchen, so gewährte ihm doch jetzt, wo sein Entschluß nach seiner Ansicht mit den Forderungen der Religion zusammenfiel, diese religiöse Bestätigung seines Entschlusses eine große Befriedigung und beruhigte ihn sogar zum Teil. Es war ihm angenehm zu denken, daß auch bei einer so ernsten Lebensangelegenheit niemand werde sagen können, er habe nicht gemäß den Geboten jener Religion gehandelt, deren Fahne er inmitten der allgemeinen Erkaltung und Gleichgültigkeit stets hochgehalten hatte. Bei weiterer eingehender Überlegung vermochte Alexei Alexandrowitsch nicht einmal abzusehen, warum sein Verhältnis zu seiner Frau nicht beinahe dasselbe bleiben könne wie bisher. Allerdings werde er zweifellos nie imstande sein, ihr seine Achtung wieder zuzuwenden; aber seiner Ansicht nach gab es keinen Grund und konnte auch keinen geben, weshalb er leiden und sich sein Leben zerstören sollte, nur weil sie eine schlechte, treulose Gattin war. ›Ja, es wird die Zeit dahinwandeln, die alles ausgleichende Zeit, und unsere Beziehungen werden wieder die früheren werden‹, sagte sich Alexei Alexandrowitsch, ›wenigstens insoweit, daß ich keine Störung im ruhigen Flusse meines Lebens empfinde. Sie wird notwendigerweise unglücklich sein; aber ich habe keine Schuld, und daher kann ich nicht unglücklich sein.‹
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A ls Alexei Alexandrowitsch in Petersburg ankam, war er nicht nur in diesem Entschlusse vollkommen fest geworden, sondern er hatte auch bereits in seinem Kopfe den Brief entworfen, den er an seine Frau schreiben wollte. In die Loge des Pförtners tretend, warf er einen Blick auf die eingegangenen Briefe und die aus dem Ministerium geschickten Akten und gab Befehl, alles nach seinem Arbeitszimmer zu bringen.
»Ausspannen und niemand vorlassen!« antwortete er auf die Frage des Pförtners mit einem gewissen Behagen, aus dem man auf seine gute Stimmung schließen konnte; einen besonderen Nachdruck legte er dabei auf die Worte: »Niemand vorlassen!«
In seinem Arbeitszimmer ging Alexei Alexandrowitsch zweimal auf und ab und blieb dann vor seinem gewaltigen Schreibtische stehen, auf dem der Kammerdiener, sobald er ihn hatte vorfahren sehen, bereits sechs Kerzen angezündet hatte, knackte mit den Fingern, setzte sich und legte Papier und Feder zurecht. Die Ellbogen auf den Tisch stützend, neigte er den Kopf zur Seite, dachte etwa eine Minute lang nach und begann dann zu schreiben, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten. Er schrieb, ohne sich einer Anrede an seine Frau zu bedienen, und zwar französisch, wobei er das Fürwort vous verwendete, das nicht so kalt klingt wie das entsprechende russische Fürwort.
»Bei unserer letzten Unterredung sagte ich Ihnen, daß ich die Absicht hätte, Ihnen meinen Entschluß über den Gegenstand unseres Gespräches mitzuteilen. Nachdem ich alles sorgsam durchdacht habe, schreibe ich jetzt, um dieses Versprechen zu erfüllen. Mein Entschluß ist folgender: von welcher Art auch immer Ihr Verhalten gewesen sein mag, so halte ich mich doch nicht für berechtigt, die heiligen Bande zu zerreißen, mit denen eine höhere Macht uns verknüpft hat. Die Zusammengehörigkeit der Familie kann nicht durch eine Laune, durch die Willkür, ja nicht einmal durch ein Verbrechen eines der Gatten zerstört werden, und unser Leben muß auch in Zukunft denselben Gang nehmen, den es bisher genommen hat. Dies ist um meinetwillen, um Ihretwillen und um unseres Sohnes willen notwendig. Ich bin der festen Überzeugung, daß Sie das, was den Anlaß des vorliegenden Briefes bildet, bereut haben und noch bereuen, und daß Sie mir helfen werden, die Ursache unseres Zwistes mit der Wurzel auszureißen und das Vergangene zu vergessen. Andernfalls werden Sie sich selbst sagen können, was Sie und Ihren Sohn erwartet. Ich hoffe, daß ich bei einer persönlichen Zusammenkunft alles dies eingehender mit Ihnen werde besprechen können. Da die Hauptzeit für die Sommerfrische zu Ende geht, so möchte ich Sie bitten, möglichst bald, jedenfalls nicht später als Dienstag, wieder nach Petersburg überzusiedeln. Alle für Ihren Umzug
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