Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
fortdauern kann, unter keinen Umständen fortdauern kann, wie er das annimmt.«
»Warum sollte das unmöglich sein?« erwiderte Anna, ihre Tränen zurückdrängend; sie betrachtete offenbar alles, was er noch weiter sagen werde, für bedeutungslos. Sie fühlte, daß ihr Schicksal entschieden war.
Wronski wollte eigentlich antworten, daß nach dem seines Erachtens unausbleiblichen Duelle dieser Zustand nicht fortdauern könne; aber er sagte etwas anderes.
»Es kann nicht so bleiben. Ich hoffe, du wirst ihn jetzt verlassen. Ich hoffe«, hier wurde er verlegen und errötete, »du wirst mir erlauben, unser weiteres Leben zu erwägen und einzurichten. Morgen ...« begann er. Aber sie ließ ihn nicht ausreden.
»Und mein Sohn?« rief sie. »Du siehst doch, was er schreibt. Ich müßte meinen Sohn verlassen, und das kann und will ich nicht.«
»Aber ich bitte dich um Gottes willen: was ist denn besser, daß du deinen Sohn verläßt oder daß du diesen demütigenden Zustand verlängerst?«
»Demütigend für wen?«
»Für alle und am meisten für dich.«
»Du sagst: demütigend; sage das nicht. Dieses Wort hat für mich keinen Sinn«, sagte sie mit zitternder Stimme. Sie wollte nicht, daß er jetzt eine Unwahrheit sagte. Seine Liebe war das einzige, was ihr jetzt noch blieb, und sie wollte ihn weiterlieben. »Du sollst wissen, daß seit dem Tage, da ich dich liebgewonnen habe, alle Dinge sich für mich in ihrem Werte verändert haben. Mein ein und alles ist deine Liebe. Wenn diese mir gehört, dann fühle ich mich so hoch und fest, daß nichts für mich demütigend sein kann. Ich bin stolz auf meine Lage, weil ... Ich bin stolz darauf, daß ...« Sie sprach es nicht zu Ende aus, worauf sie stolz war. Tränen der Scham und Verzweiflung erstickten ihre Stimme. Sie blieb stehen und brach in Schluchzen aus.
Auch er merkte, daß ihm etwas zur Kehle hinaufstieg, daß ihm etwas in der Nase juckte, und fühlte zum erstenmal in seinem Leben, daß er nahe daran war loszuweinen. Er hätte nicht sagen können, was ihn eigentlich so rührte; sie dauerte ihn, und er sagte sich, daß er ihr nicht helfen könne, und war sich zugleich bewußt, daß er an ihrem Unglück schuld war, daß er etwas Schlechtes getan hatte.
»Ist denn nicht eine Scheidung möglich?« fragte er leise. Sie schüttelte, ohne zu antworten, den Kopf. »Kannst du denn nicht deinen Sohn mit dir nehmen und ihn trotzdem verlassen?«
»Ja; aber das hängt alles von ihm ab. Jetzt muß ich zu ihm hinfahren«, sagte sie trocken. Ihre Ahnung, daß alles beim alten bleiben werde, hatte sie nicht getäuscht.
»Dienstag werde ich in Petersburg sein«, sagte Wronski. »Da wird alles zur Entscheidung kommen.«
»Ja«, erwiderte sie. »Aber wir wollen nicht mehr darüber sprechen.«
Annas Wagen, den sie weggeschickt hatte mit der Weisung, sich nach einiger Zeit am Gittertor des Wredeschen Parks wieder einzufinden, näherte sich. Anna nahm Abschied von Wronski und fuhr nach Hause.
23
A m Montag fand eine ordentliche Sitzung der Kommission vom 2. Juni statt. Alexei Alexandrowitsch trat in den Sitzungssaal, begrüßte die Mitglieder und den Vorsitzenden wie gewöhnlich, setzte sich auf seinen Platz und legte die Hand auf die vor ihm bereitliegenden Papiere. Unter diesen Papieren befanden sich auch die erforderlichen Unterlagen und eine skizzenartige Gliederung der Rede, die er zu halten gedachte. Übrigens hatte er diese Unterlagen eigentlich gar nicht nötig. Er hatte alles im Kopfe und hielt es nicht für notwendig, sich das, was er sagen wollte, vorher noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Er wußte, daß, wenn der Augenblick da sein und er das Gesicht seines Gegners vor sich sehen werde, der vergeblich bemüht sein werde, eine gleichmütige Miene zu machen, daß dann seine Rede ganz von selbst besser dahinströmen werde, als wenn er sich jetzt noch so sehr vorbereitete. Er war sich bewußt, daß der Inhalt seiner Rede so gewaltig und wuchtig war, daß jedes Wort ein Keulenschlag sein werde. Indessen machte er, während er den üblichen Bericht mit anhörte, die allerunschuldigste, harmloseste Miene. Seine weißen, von hervortretenden Adern überzogenen Hände tasteten mit den langen Fingern sanft an den beiden Rändern des vor ihm liegenden weißen Papierbogens umher; den Kopf hielt er mit einem Ausdruck von Müdigkeit zur Seite geneigt; niemand, der ihn so sah, hätte gedacht, daß seinem Munde im
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