Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
ziemlich lange. »Ist Sergei gesund?« fragte er und fügte, ohne die Antwort abzuwarten, hinzu: »Ich werde heute nicht zum Mittagessen hier sein und muß gleich wegfahren.«
»Ich wollte nach Moskau fahren«, bemerkte sie.
»Nein, Sie haben sehr, sehr gut daran getan, daß Sie hierhergekommen sind«, sagte er und verstummte wieder.
Da sie sah, daß er nicht imstande war, die Auseinandersetzung zu beginnen, so fing sie selbst an.
»Alexei Alexandrowitsch«, sagte sie, indem sie ihn anblickte und die Augen nicht vor seinem auf ihre Frisur gerichteten Blicke niederschlug, »ich habe mich vergangen, ich bin ein schlechtes Weib; aber ich bin noch dieselbe, die ich war, dieselbe, als die ich mich damals Ihnen zu erkennen gegeben habe, und ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich daran nichts ändern kann.«
»Ich habe Sie nicht danach gefragt«, versetzte er und schaute ihr plötzlich mit festem, haßerfülltem Blicke gerade in die Augen. »Ich habe das auch vorausgesetzt.« Der Zorn verhalf ihm offenbar wieder zum Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten. »Aber was ich Ihnen damals gesagt und nachher geschrieben habe«, fuhr er mit seiner scharfen, hohen Stimme fort, »das wiederhole ich Ihnen jetzt: ich bin nicht verpflichtet, dies zu wissen. Ich ignoriere es. Nicht alle Gattinnen haben wie Sie die Güte, so eilig ihren Ehemännern eine so angenehme Mitteilung zu machen.« Er legte einen besonderen Nachdruck auf das Wort angenehm. »Ich werde es so lange ignorieren, wie die Welt nichts davon weiß, so lange, wie mein Name nicht befleckt ist. Und darum beschränke ich mich darauf, Ihnen mitzuteilen, daß unsere Beziehungen dieselben bleiben müssen, die sie immer gewesen sind, und daß ich nur in dem Falle, wenn Sie sich bloßstellen sollten, genötigt sein werde, die erforderlichen Maßregeln zu ergreifen, um meine Ehre zu schützen.«
»Aber unsere Beziehungen können nicht von derselben Art sein wie bisher«, begann Anna zaghaft und blickte ihn erschrocken an.
Als sie wieder diese ruhigen Handbewegungen sah und diese durchdringende, kindlich hohe, spöttische Stimme hörte, da verschwand ihr früheres Mitleid vor dem Widerwillen gegen ihn; jetzt fürchtete sie sich nur vor ihm; aber sie wollte um jeden Preis eine Klärung ihrer Lage herbeiführen.
»Ich kann nicht Ihre Gattin sein, wenn ich ...«, begann sie. Er brach in ein grimmiges, kaltes Lachen aus.
»Die Lebensweise, die Sie sich erwählt haben, muß wohl auf Ihr ganzes Denken zurückgewirkt haben. Ich achte so sehr das, was Sie früher waren, und ich verachte so sehr das, was Sie jetzt sind, daß mir die Deutung, die Sie meinen Worten beilegen, ganz fern lag.«
Anna seufzte und ließ den Kopf sinken.
»Übrigens«, fuhr er, hitziger werdend, fort, »das ist mir nicht verständlich: wenn Sie einen so großen Unabhängigkeitssinn besitzen und Ihrem Gatten geradezu von Ihrer Untreue Mitteilung machen und in Ihrem Verhalten anscheinend gar nichts Unpassendes finden, wie können Sie dann die Erfüllung der Pflichten, die die Gattin dem Manne gegenüber hat, für unpassend halten?«
»Alexei Alexandrowitsch, was verlangen Sie von mir?«
»Ich verlange, daß dieser Mensch sich hier nicht blicken läßt; ich verlange, daß Sie sich so benehmen, daß weder die Welt noch die Dienerschaft Ihnen Übles nachsagen kann; ich verlange, daß Sie ihn nicht wiedersehen. Ich möchte meinen, das ist nicht zuviel verlangt. Und dafür werden Sie die Rechte einer ehrbaren Frau genießen, ohne ihre Pflichten zu erfüllen. Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Jetzt muß ich wegfahren. Ich bin zum Mittagessen nicht hier.« Er stand auf und ging zur Tür hin.
Anna erhob sich ebenfalls. Mit einer schweigenden Verbeugung ließ er sie an sich vorbei.
24
D ie Nacht, die Ljewin auf dem Heuhaufen zugebracht hatte, war für ihn nicht ohne wichtige Nachwirkungen geblieben: seine bisherige Art der Wirtschaftsführung war ihm zuwider geworden und hatte für ihn alles Interesse verloren. Trotz der vorzüglichen Ernte waren noch nie so viele Mißerfolge und so viele Mißhelligkeiten zwischen ihm und den Bauern vorgekommen wie in diesem Jahre, oder wenigstens schien es ihm so; und die Ursache dieser Mißerfolge und dieser Mißhelligkeiten war ihm jetzt völlig verständlich. Das Vergnügen, das er an der persönlichen Arbeit gefunden hatte; die daraus hervorgehende Annäherung an die Bauern; der Neid, den
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