Nach alter Sitte
1. Kapitel
Die schwere Metalltür hatte sich hinter ihm geschlossen. Das Klacken des Riegels im Schloss war zwischen den dicken Mauern des weiten Raumes ein paar Sekunden hin und her geworfen, dann immer mehr verschluckt worden und endlich ganz verhallt. Nun stand er in völliger Dunkelheit. Und Stille.
Es roch nach kaltem Stein. Er schaltete die Taschenlampe an. Das sterile blaue Licht aus winzigen LEDs wirkte künstlich, unpassend für das uralte Gemäuer. In dem schwachen Strahl schwebte feiner Staub. Die Partikel tanzten umher, in Unruhe versetzt durch den kurzen Luftzug, den sein Eintreten bewirkt hatte, und beruhigten sich dann bald wieder. Der Mann atmete stoßweise aus, um zu sehen, wie die Punkte erneut durcheinandergewirbelt wurden. Sein dampfender Atem stand einen Augenblick in dem Korridor aus fahlem Licht. Er wunderte sich, wie kalt es in der Basilika war. Draußen war es lau, geradezu warm für eine Julinacht in der Nordeifel. Mit dieser Kälte im Inneren des romanischen Kirchenbaus hatte der heimliche Besucher nicht gerechnet. Er beschloss, sich nicht länger als unbedingt nötig hier aufzuhalten. Dieser Gedanke erzeugte bei ihm einen schalen Geschmack der enttäuschten Vorfreude. Aber andererseits – sein Tun würde die beabsichtigte Wirkung ohnehin erst später entfalten, und er würde es erleben. Langsam und ohne auf dem Steinboden ein Geräusch von Schritten zu erzeugen, ging er durch die leeren Holzbänke. Er stieg über das Seil, das die Apsis vom Mittelschiff der Basilika Sankt Johannes Baptist trennte, und stand dann vor dem Altar. Sorgfältig legte er dort das Paket ab, das er bis dahin in der Linken gehalten halte. Leicht war es, aber großflächig. Behutsam löste er die Umhüllung ab, bis das freilag, um dessentwillen er den nächtlichen Einbruch in die Basilika verübt hatte. Nicht zu stehlen hatte er vor. Nein, im Gegenteil, er wollte etwas hier zurücklassen. Etwas, von dem er wusste, dass es Aufsehen erregen würde. Langsam und zärtlich glitten seine Fingerkuppen über die glatte Oberfläche. Das künstliche Licht ließ die Farben falsch aussehen, aber der Betrachter wusste, wie sie in Wahrheit aussahen. Er atmete noch einmal tief ein, dann löste er sich vom Altar und ging zum Eingang der Kirche zurück. Bevor er die Tür öffnete, schaltete er die Taschenlampe aus. Niemand durfte ihn hier beobachten. Vorsichtig sah er sich um. Einsam lag das alte Gemäuer auf dem Burgberg über Nideggen. Um diese nachtschlafende Zeit war hier kein Mensch unterwegs. Der Mann bewegte sich im Schatten der Basilika in Richtung Burgruine. Um sicherzugehen, nicht doch noch jemandem zu begegnen, würde er sich durch den Wald davonschleichen.
2. Kapitel
Kommissar Wollbrand spürte jeden Knochen in seinem Leib. Und er wusste nicht, ob er das schrecklich oder im Gegenteil sogar gut finden sollte. Vielleicht versuchte sein Körper ihm zu sagen, dass er in der vergangenen Nacht nicht gestorben war. Der Alte beschloss, seinen müden Gliedern dafür dankbar zu sein.«
Lorenz Bertold murmelte diese Worte leise vor sich hin, während er den langen Flur hinunterschlurfte. Er hatte sich in der letzten Zeit angewöhnt, deutlich später als die meisten seiner Mitbewohner aufzustehen. Doch an diesem Morgen war er früh unterwegs. Die Sonne hatte sich gerade erst über die grünen Hügel der Rureifel erhoben und sendete ihre noch etwas matten Strahlen flach durch das Fenster am Ende des Ganges. Lorenz strebte dem anderen Ende zu und betrachtete den langen Schatten, den er auf den Boden warf. Selbst diesem flüchtigen Abbild seines Körpers war das Unbehagen anzusehen, das ihn erfüllte. Zaghaft und unsicher schob sich die graue Silhouette vorwärts. Der Alte wischte mit seinem Gehstock durch die Luft, als könne er damit seinen Schatten des Weges verweisen, und murmelte leise: »Der Kommissar hatte keine Ahnung, was ihn in der vergangenen Nacht am Schlaf gehindert hatte. War etwas geschehen, von dem er noch keine Kenntnis hatte und das dennoch bereits seinen Schatten vorauswarf?«
Es war nicht das erste Mal, dass er sich nach einer durchwachten Nacht lustlos durch die Gänge der Seniorenresidenz Burgblick schleppte. Dabei war er am Vorabend in der Hoffnung ins Bett gegangen, tief und fest zu schlafen. Er hatte sich zu einer Veranstaltung überreden lassen, die sich Kräftigungsgymnastik schimpfte. Nach anfänglichem Widerwillen hatte es ihm sogar gefallen. Was er sich natürlich nicht hatte anmerken lassen. Die
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