Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
Vom Netzwerk:
wohlbekannte Mienenspiel, das stets ein Zeichen ernsten Nachdenkens war: auf ihrer glatten Stirn trat ein kleines Fältchen hervor.
     
    »Ist Ihnen etwas unangenehm?« sagte er schnell. »Ich habe allerdings kein Recht, danach zu fragen ...«
     
    »Wieso! Aber nein, es ist mir nichts unangenehm«, antwortete sie kühl und fügte sogleich hinzu: »Haben Sie Mademoiselle Linon nicht begrüßt?«
     
    »Nein, noch nicht.«
     
    »Laufen Sie doch zu ihr hin; sie hat Sie so sehr gern.«
     
    ›Was ist das? Ich habe sie erzürnt. Herrgott, steh mir bei!‹ dachte Ljewin und lief zu der alten Französin mit den grauen Löckchen hin, die auf einer Bank saß. Lächelnd und ihre falschen Zähne zeigend, begrüßte sie ihn wie einen alten Freund.
     
    »Ja, ja, so wachsen wir und werden älter«, sagte sie zu ihm, mit den Augen auf Kitty deutend. »Tiny bear 1 ist schon hübsch groß geworden«, fuhr die Französin lachend fort und erinnerte ihn damit an einen Scherz, den er einstmals über die drei Fräulein gemacht hatte: er hatte sie nach den drei Bären in dem englischen Märchen benannt. »Erinnern Sie sich wohl, daß Sie sie früher einmal so genannt haben?«
     
    Er stellte entschieden in Abrede, sich dessen zu entsinnen; aber die Französin lachte schon zehn Jahre über diesen Scherz und fand ihn hübsch.
     
    »Nun, gehen Sie, und laufen Sie weiter! Aber unsere Kitty hat ganz gut laufen gelernt, nicht wahr?«
     
    Als Ljewin wieder zu Kitty hingelaufen kam, war ihre Miene nicht mehr so streng, und auch die Augen blickten offen und freundlich. Aber es schien ihm, als liege in ihrer Freundlichkeit ein besonderer, geflissentlich ruhiger Ton. Und es wurde ihm schwer ums Herz. Nachdem sie ein Weilchen über ihre alte Erzieherin und deren Absonderlichkeiten gesprochen hatte, fragte sie ihn nach seiner Lebensweise.
     
    »Langweilen Sie sich denn im Winter auf dem Lande gar nicht?« fragte sie.
     
    »Nein, ich langweile mich nicht, ich habe viel zu tun«, erwiderte er und fühlte dabei, daß sie ihn durch ihren ruhigen Ton in Schranken hielt und daß er jetzt ebensowenig imstande sein werde, diese Schranken zu durchbrechen, wie er es zu Anfang des Winters gekonnt hatte.
     
    »Sind Sie zu längerem Aufenthalte nach Moskau gekommen?« fragte ihn Kitty.
     
    »Ich weiß es nicht«, antwortete er, ohne zu überlegen, was er sagte. Es kam ihm der Gedanke, wenn er sich wieder diesem ruhig-freundschaftlichen Tone fügte, so werde er auch diesmal abreisen müssen, ohne eine Entscheidung erreicht zu haben; daher beschloß er, sich dagegen aufzulehnen.
     
    »Aber das müssen Sie doch wissen!«
     
    »Nein, ich weiß es nicht. Das wird von Ihnen abhängen«, versetzte er und erschrak sogleich über diese Antwort.
     
    Ob sie nun seine Worte nicht gehört hatte oder nicht hatte hören wollen – sie schien zu straucheln, stampfte zweimal mit dem Füßchen auf und lief eilig von ihm fort. Sie lief zu Mademoiselle Linon hin, sagte ihr etwas und schlug dann die Richtung nach dem Häuschen ein, wo die Damen sich die Schlittschuhe an- und abschnallen ließen.
     
    ›Mein Gott, was habe ich getan! Herr, mein Gott! Steh mir bei; gib mir ein, was ich tun soll!‹ betete Ljewin im stillen. Und da er gleichzeitig ein Bedürfnis nach starker Bewegung empfand, so nahm er einen Anlauf und beschrieb Spiralen nach außen und nach innen zu.
     
    In diesem Augenblick trat ein junger Mann, der beste der neueren Schlittschuhläufer, mit einer Zigarette im Munde und Schlittschuhen an den Füßen aus dem Kaffeehäuschen heraus, nahm einen Anlauf und sprang auf den Schlittschuhen mit Gepolter die Treppenstufen hinab. Unten angelangt, glitt er, ohne auch nur die ungezwungene Haltung der Arme zu verändern, auf dem Eise dahin.
     
    »Aha, das ist ein neues Kunststück«, sagte Ljewin und lief sofort nach oben, um es gleichfalls auszuführen.
     
    »Brechen Sie sich nicht den Hals! Das muß man geübt haben!« rief ihm Nikolai Schtscherbazki zu.
     
    Ljewin stieg die Stufen hinan, nahm oben einen möglichst großen Anlauf und sprang hinunter, wobei er sich bei der ungewohnten Bewegung mit den Armen im Gleichgewicht hielt. Bei der letzten Stufe strauchelte er; jedoch berührte er das Eis dabei kaum mit der Hand; durch eine kräftige Bewegung brachte er sich wieder in die Höhe und lief lachend auf den Schlittschuhen über die Eisfläche weiter.
     
    ›Ein lieber, prächtiger Mensch‹, dachte Kitty, die in diesem Augenblicke mit Mademoiselle Linon aus dem

Weitere Kostenlose Bücher