Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
empfangen.
Daher fuhr Wronski gleich am folgenden Tage noch einmal zu ihr und sprach, da er sie allein angetroffen hatte, seinen Wunsch ohne Umschweife aus.
»Du weißt, Alexei«, erwiderte sie, nachdem sie ihn hatte ausreden lassen, »wie gern ich dich habe und daß ich bereit bin, alles für dich zu tun; aber ich habe geschwiegen, weil ich wußte, daß ich dir und Anna Arkadjewna nicht von Nutzen sein kann.« Sie bediente sich geflissentlich der vollen Bezeichnung Anna Arkadjewna, um ihre Achtung auszudrücken. »Bitte, glaube nicht, daß ich über sie den Stab breche, durchaus nicht. Vielleicht hätte ich an ihrer Stelle dasselbe getan. Ich möchte nicht auf Einzelheiten eingehen und kann es auch unmöglich«, fuhr sie fort, indem sie ihm zaghaft in das finstere Gesicht blickte. »Aber man muß die Dinge bei ihrem Namen nennen. Du willst, daß ich sie besuche, sie bei mir empfange und sie dadurch in der Gesellschaft rechtfertige; aber du mußt dir doch bei näherer Überlegung selbst sagen, daß ich das schlechterdings nicht tun kann. Ich habe heranwachsende Töchter, und ich muß auch um meines Mannes willen in der Gesellschaft verkehren. Nun, sagen wir einmal, ich mache Anna Arkadjewna einen Besuch; dann wird sie merken, daß ich sie nicht zu mir einladen kann oder es so einrichten muß, daß sie dabei nicht mit Leuten zusammentrifft, die die Sache anders ansehen; und das wird kränkend für sie sein. Ich kann sie nicht hinaufheben ...«
»Meines Erachtens ist sie nicht tiefer gesunken als Hunderte von Frauen, die ihr empfangt!« unterbrach Wronski sie mit noch mehr verfinsterter Miene und stand dann schweigend auf, da er sah, daß der Entschluß seiner Schwägerin unerschütterlich war.
»Alexei! Sei mir nicht böse. Du mußt doch selbst einsehen, daß ich nichts dafür kann«, sagte Warja, ihn mit schüchternem Lächeln anblickend.
»Ich bin dir nicht böse«, versetzte er, ohne daß sich der finstere Ausdruck seines Gesichtes geändert hätte. »Aber von dir tut mir die abschlägige Antwort doppelt weh. Auch das ist mir schmerzlich, daß dadurch unsere Freundschaft zerstört wird, wenn nicht zerstört, so doch jedenfalls abgeschwächt. Du wirst einsehen, daß auch ich darin nicht anders handeln kann.«
Und damit verließ er sie.
Wronski sah ein, daß weitere Versuche zwecklos seien und daß sie genötigt sein würden, diese paar Tage in Petersburg wie in einer fremden Stadt zu verleben und jede Berührung mit ihrer früheren Umwelt zu vermeiden, um sich nicht den peinlichsten Unannehmlichkeiten und Kränkungen auszusetzen. Eine der schlimmsten Unannehmlichkeiten ihrer Lage in Petersburg bestand darin, daß Alexei Alexandrowitsch und sein Name überall zu sein schienen. Man konnte von keinem Gegenstande zu sprechen anfangen, ohne daß sich das Gespräch auf Alexei Alexandrowitsch gewandt hätte; man konnte nirgends hinkommen, ohne ihm zu begegnen. Wenigstens hatte Wronski diese Empfindung, gerade wie es jemandem, der einen kranken Finger hat, scheint, als stoße er überall nur mit diesem kranken Finger an.
Der Aufenthalt in Petersburg wurde für Wronski auch dadurch noch drückender, daß er diese ganze Zeit über bei Anna eine neue, ihm unverständliche Gemütsverfassung wahrnahm. Bald war sie so zärtlich, als ob sie sich soeben in ihn verliebt hätte, bald wieder wurde sie kalt, reizbar und verschlossen. Sie quälte sich mit etwas und verbarg ihm etwas und tat, als bemerkte sie die Kränkungen gar nicht, die ihm das Leben vergifteten und ihr bei der Feinheit ihres Empfindens noch qualvoller sein mußten.
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1 (frz.) Das geht schon.
29
B ei der Rückkehr nach Rußland hatte Anna namentlich den Zweck im Auge gehabt, ihren Sohn wiederzusehen. Seit dem Tage, wo sie aus Italien abgereist war, hatte der Gedanke an dieses Wiedersehen sie fortwährend in Aufregung erhalten. Und je mehr sie sich Petersburg genähert hatte, um so mehr Freude hatte sie von diesem Wiedersehen erhofft, um so größere Bedeutung ihm beigelegt. Wie dieses Wiedersehen bewerkstelligt werden könne, diese Frage hatte sie sich nicht vorgelegt. Es war ihr als eine ganz natürliche, einfache Sache erschienen, daß sie ihren Sohn wiedersehen werde, sobald sie sich mit ihm in ein und derselben Stadt befinde; aber nach der Ankunft in Petersburg kam ihr auf einmal ihre jetzige Stellung in der Gesellschaft deutlich zum Bewußtsein, und sie sah ein, daß es seine Schwierigkeiten haben werde,
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