Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
derselbe ihm schon längst bekannte Ton, in dem der Vater immer mit ihm verkehrte und auf den Sergei bereits einzugehen gelernt hatte. Der Vater redete mit ihm stets (das war Sergeis Empfindung dabei), wie wenn er ein Geschöpf seiner Phantasie vor sich hätte, einen von den Knaben, wie sie in Büchern vorkamen, aber mit ihm, Sergei, gar keine Ähnlichkeit hatten. Und Sergei stellte sich im Verkehr mit dem Vater immer nach Möglichkeit so, als sei er einer dieser in den Büchern vorkommenden Knaben.
»Ich hoffe, du verstehst das!« sagte der Vater.
»Ja, Papa«, antwortete Sergei, indem er sich anstellte, als sei er jenes Phantasiewesen.
Die Aufgabe für diese Stunde bestand im Auswendiglernen einiger Sprüche aus dem Evangelium und in der Wiederholung des Anfangs des Alten Testaments. Die Sprüche aus dem Evangelium hatte Sergei ganz gut gelernt; aber in dem Augenblick, wo er sie aufsagte, zerstreute er sich durch die Betrachtung des Stirnbeins seines Vaters, das an der Schläfe einen scharfen Knick bildete, und verhaspelte sich so, daß er von dem Ende des einen Verses in den Anfang eines mit dem gleichen Worte beginnenden anderen Verses hineingeriet. Alexei Alexandrowitsch betrachtete dies als einen deutlichen Beweis dafür, daß der Knabe das, was er aufsagte, nicht verstand, und das machte ihn verdrießlich.
Er runzelte die Stirn und begann eine Erläuterung, die Sergei schon oft gehört hatte, aber niemals hatte verstehen können, weil er eben den Text selbst ganz klar verstand – gerade wie bei der Belehrung, daß »plötzlich« ein Umstandswort der Art und Weise sei. Sergei blickte erschrocken den Vater an und hatte nur einen Gedanken: ob der Vater ihn das Gesagte würde wiederholen lassen, wie er es öfters getan hatte, oder nicht. Dieser Gedanke ängstigte ihn so, daß er nun gar nichts mehr verstand. Aber der Vater ließ es ihn diesmal nicht wiederholen und ging zu der Aufgabe aus dem Alten Testament über. Die Begebenheiten selbst erzählte Sergei recht befriedigend; aber als er Fragen nach dem vorbedeutenden Sinne einiger dieser Begebenheiten beantworten sollte, da wußte er nichts Rechtes, obgleich er wegen der gleichen Sache schon einmal bestraft worden war. Die Stelle, von der er gar nichts wußte und an der er herumstotterte, während er in den Tisch schnitt und sich auf dem Stuhle schaukelte, das war die, wo er über die vorsintflutlichen Patriarchen Auskunft geben sollte. Von diesen kannte er keinen außer Henoch, der lebend in den Himmel entrückt wurde. Kurz vorher hatte er noch alle Namen gewußt; aber jetzt hatte er sie ganz und gar vergessen, namentlich, weil Henoch seine Lieblingsgestalt aus dem ganzen Alten Testament war und sich in seinem Kopfe an die Entrückung des lebenden Henoch in den Himmel eine ganze lange Gedankenreihe anknüpfte, der er sich auch jetzt überließ, während er seine Augen auf die Uhrkette seines Vaters und auf einen nur halb zugeknöpften Knopf an dessen Weste heftete.
An den Tod, von dem man ihm so oft erzählt hatte, glaubte Sergei nicht recht. Er glaubte nicht, daß die Menschen, die er liebhatte, sterben könnten, und namentlich nicht, daß er selbst einmal sterben werde. Das schien ihm völlig unmöglich und unbegreiflich. Aber man sagte ihm, alle Menschen müßten sterben; er hatte sogar mehrmals Leute, denen er Glauben schenkte, darüber befragt, und auch diese hatten es ihm bestätigt; unter anderen hatte es auch die Kinderfrau gesagt, wiewohl nur mit Widerstreben. Aber Henoch war doch nicht gestorben, folglich starben doch nicht alle Menschen. ›Und warum sollte sich denn nicht jeder Mensch vor Gott ebenso verdient machen können und dann auch lebend in den Himmel aufgenommen werden?‹ dachte Sergei. Die bösen Menschen, das heißt solche Menschen, die Sergei nicht leiden konnte, die konnten sterben; aber die guten konnten alle dasselbe Los haben wie Henoch.
»Nun also, wie heißen die Patriarchen?«
»Henoch, Enos ...«
»Die hattest du ja schon genannt. Schlecht, Sergei, sehr schlecht! Wenn du dir nicht einmal Mühe gibst, das zu lernen, was ein Christ am allernotwendigsten wissen muß«, sagte der Vater, indem er aufstand, »was kann dich dann überhaupt interessieren? Ich bin unzufrieden mit dir, und Peter Ignatjewitsch« (das war der Lehrer, der die oberste Leitung von Sergeis Erziehung hatte) »ist auch mit dir unzufrieden ... Ich muß dich bestrafen.«
Der Vater und der Lehrer waren beide mit Sergei
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