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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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unzufrieden, und er lernte in der Tat sehr schlecht. Aber man konnte durchaus nicht sagen, daß er ein unbefähigter Knabe gewesen wäre. Im Gegenteil, er war weit befähigter als jene Knaben, die der Lehrer ihm als Muster hinstellte. Nach der Ansicht des Vaters wollte er nicht lernen, was man ihn lehrte. In Wirklichkeit aber konnte er es nicht lernen. Er konnte es nicht lernen, weil in seiner Seele Forderungen vorhanden waren, die für ihn mehr Verbindlichkeit hatten als jene, die der Vater und der Erzieher an ihn stellten. Diese beiderseitigen Forderungen standen zueinander in Widerspruch, und so lag er mit seinen Erziehern geradezu im Kampfe.
     
    Er war neun Jahre alt, er war ein Kind; aber sein Herz kannte er, es war ihm teuer, und er hütete es, so wie das Lid das Auge hütet, und ohne den Schlüssel der Liebe ließ er niemand in sein Herz hinein. Seine Erzieher klagten über ihn, daß er nicht lernen wolle, und doch war seine Seele von Wissensdurst erfüllt. Er lernte bei Kapitonütsch, bei der Kinderfrau, bei Nadjenka, bei Wasili Lukitsch, aber nicht bei seinen Lehrern. Das Wasser, auf das der Vater und der Lehrer für ihre Mühlräder warteten, war schon längst durchgesickert und arbeitete an einer anderen Stelle.
     
    Der Vater bestrafte Sergei dadurch, daß er ihn nicht zu Lydia Iwanownas Nichte Nadjenka gehen ließ; aber diese Strafe wurde für Sergei zu einem Glück. Wasili Lukitsch war guter Laune und zeigte ihm, wie man Windmühlen baut. Der ganze Abend verging bei dieser Arbeit und bei phantastischen Überlegungen, wie es möglich sei, eine solche Mühle anzufertigen, bei der man sich selbst mit herumdrehen könne; man müßte sich mit den Händen an den Flügeln festhalten oder sich anbinden lassen und sich dann mit herumdrehen. An seine Mutter dachte Sergei den ganzen Abend nicht mehr; aber als er schon zu Bett ging, erinnerte er sich auf einmal wieder an sie und betete leise mit seinen eigenen Worten darum, daß seine Mutter morgen, an seinem Geburtstage, sich nicht länger verbergen, sondern zu ihm kommen möchte.
     
    »Wasili Lukitsch, wissen Sie, worum ich noch besonders gebetet habe?«
     
    »Daß Sie künftig besser lernen möchten?«
     
    »Nein.«
     
    »Um Spielsachen?«
     
    »Nein. Falsch geraten. Es ist etwas sehr Schönes, aber ein Geheimnis! Wenn es in Erfüllung geht, dann werde ich es Ihnen sagen. Haben Sie es noch nicht erraten?«
     
    »Nein, ich kann es nicht raten. Sagen Sie es mir doch«, erwiderte Wasili Lukitsch und lächelte dabei, was bei ihm selten vorkam. »Nun, legen Sie sich nur jetzt hin; ich werde das Licht auslöschen.«
     
    »Ohne Licht sehe ich das, woran ich denke und worum ich gebetet habe, noch deutlicher vor mir. Aber da hätte ich Ihnen beinahe mein Geheimnis verraten!« sagte Sergei vergnügt lachend.
     
    Als das Licht hinausgetragen war, glaubte Sergei zu hören und zu fühlen, daß seine Mutter da sei, an seinem Bette stehe, sich über ihn beuge und ihn zärtlich und liebevoll anblicke. Aber dann erschienen Windmühlen, ein Federmesser; alles verschwamm ineinander, und er schlief ein.
     

28
     
    N ach ihrer Ankunft in Petersburg waren Wronski und Anna in einem der besten Hotels abgestiegen. Wronski wohnte für sich in einem unteren Stockwerk, Anna mit dem Kinde, der Amme und dem Kammermädchen oben, in einer größeren Wohnung von vier Zimmern.
     
    Gleich am ersten Tage nach der Ankunft fuhr Wronski zu seinem Bruder; dort traf er außer seiner Schwägerin auch seine Mutter, die in geschäftlichen Angelegenheiten aus Moskau herübergekommen war. Beide begegneten ihm wie gewöhnlich; sie erkundigten sich nach seiner Auslandsreise, sprachen von gemeinsamen Bekannten, erwähnten aber seine Beziehung zu Anna mit keinem Wort. Sein Bruder dagegen, der ihn am nächsten Vormittag besuchte, fragte von selbst nach ihr, und Alexei Wronski sagte ihm geradeheraus, er betrachte seine Verbindung mit Frau Karenina wie eine Ehe; er hoffe, die Scheidung zu bewerkstelligen und sie dann zu heiraten; bis dahin sehe er sie genau ebenso als seine Frau an wie jeder Ehemann seine angetraute Gattin, und er bitte ihn, dies der Mutter und seiner Frau mitzuteilen.
     
    »Wenn die gesellschaftlichen Kreise dies nicht gutheißen, so ist mir das völlig gleichgültig«, sagte Wronski. »Wenn aber meine Angehörigen mit mir in verwandtschaftlichen Beziehungen zu bleiben wünschen, so müssen sie auch zu meiner Frau in denselben Beziehungen stehen.«
     
    Der ältere Bruder, der stets

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