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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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verstand es. »Mein liebes, liebes Moppelchen!« sagte sie; mit diesem Kosenamen hatte sie ihn genannt, als er noch ein ganz kleines Kind war. »Du wirst mich nicht vergessen? Du ...« Aber sie vermochte nicht weiterzureden.
     
    Wie viele Worte und Wendungen fielen ihr später ein, in denen sie hätte zu ihm reden können! Aber im Augenblick fand sie keine geeigneten Ausdrücke und war nicht imstande, etwas zu sagen. Aber Sergei verstand alles, was sie ihm zu sagen beabsichtigte. Er verstand, daß sie unglücklich war und ihn liebhatte. Er hatte sogar verstanden, was die Kinderfrau geflüstert hatte. Er hatte die Worte gehört: »Immer zwischen acht und neun Uhr«, und er hatte verstanden, daß dabei vom Vater die Rede war und daß die Mutter mit dem Vater nicht zusammentreffen durfte. Das hatte er verstanden; aber eines konnte er nicht verstehen: warum hatte sich auf ihrem Gesichte ein Ausdruck des Erschreckens und der Scham gezeigt? ... Sie hatte nichts Schlechtes getan, und doch fürchtete sie sich vor ihm und schämte sich über etwas. Gern hätte er eine Frage gestellt, um eine Aufklärung über diesen Zweifel zu erhalten; aber er wagte es nicht; er sah, daß sie litt, und sie jammerte ihn. Schweigend schmiegte er sich an sie und flüsterte ihr dann zu:
     
    »Geh noch nicht weg. Er kommt noch nicht so bald.«
     
    Die Mutter schob ihn ein wenig von sich zurück, um darüber ins klare zu kommen, ob er das, was er gesagt hatte, mit Verständnis gesagt habe, und erkannte an seinem ängstlichen Gesichtsausdrucke, daß er nicht nur vom Vater sprach, sondern sie auch gewissermaßen fragte, was er von seinem Vater denken solle.
     
    »Sergei, mein lieber Junge«, sagte sie, »habe ihn lieb; er ist besser und braver als ich, und ich habe unrecht gegen ihn gehandelt. Wenn du erst groß geworden sein wirst, dann wirst du das verstehen.«
     
    »Besser als du ist niemand! ...« rief er in voller Verzweiflung und unter strömenden Tränen, faßte sie an den Schultern und preßte sie mit seinen vor Anstrengung zitternden Armen aus Leibeskräften an sich.
     
    »Mein Herzchen, mein lieber Kleiner!« murmelte Anna und begann ebenso hilflos und kindlich zu weinen wie er.
     
    In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Wasili Lukitsch trat ein. Auch bei der andern Tür wurden Schritte hörbar, und die Kinderfrau flüsterte erschrocken: »Er kommt!« und reichte Anna ihren Hut.
     
    Sergei ließ sich aufs Bett zurückfallen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte. Anna zog ihm die Hände fort, küßte noch einmal sein tränenfeuchtes Gesicht und ging mit schnellen Schritten zur Tür. Dort traf sie mit Alexei Alexandrowitsch zusammen. Als er sie erblickte, blieb er stehen und senkte den Kopf.
     
    Sie hatte zwar eben erst gesagt, er sei besser und braver als sie; aber bei dem schnellen Blick, den sie auf ihn richtete und mit dem sie seine ganze Gestalt mit allen Einzelheiten umfaßte, bemächtigte sich ihrer dennoch ein Gefühl des Widerwillens und des Ingrimms gegen ihn und ein Gefühl des Neides wegen des ihm verbleibenden Sohnes. Mit einer schnellen Bewegung zog sie den Schleier herunter, beschleunigte ihren Schritt und verließ fast laufend das Zimmer.
     
    Sie war nicht einmal dazu gekommen, die Spielsachen, die sie tags zuvor im Laden mit so viel Liebe und Leid ausgesucht hatte, hervorzuholen, und brachte sie so, wie sie waren, wieder nach Hause zurück.
     

31
     
    W ie lebhaft auch Anna das Wiedersehen mit ihrem Sohne gewünscht, wie lange sie auch daran gedacht und sich darauf vorbereitet hatte, so hätte sie doch nicht erwartet, daß dieses Wiedersehen einen so heftigen Eindruck auf sie machen werde. Als sie in ihr einsames Zimmer im Gasthofe zurückgekehrt war, konnte sie lange nicht begreifen, warum sie eigentlich dort sei. ›Ja, nun ist alles aus, und ich bin wieder allein‹, sagte sie zu sich und setzte sich, ohne den Hut abzunehmen, auf einen am Kamin stehenden Sessel. Regungslos nach der Bronze-Uhr hinstarrend, die auf einem Tische zwischen den Fenstern stand, überließ sie sich ihren Gedanken.
     
    Die französische Kammerjungfer, die sie aus dem Auslande mitgebracht hatte, kam herein und bot ihre Hilfe beim Umkleiden an. Anna blickte sie erstaunt an und erwiderte: »Später.« Der Kellner fragte an, ob sie jetzt den Kaffee befehle. »Später«, antwortete sie.
     
    Die italienische Amme, die gerade die Kleine angekleidet hatte, kam mit ihr herein und brachte sie der Mutter. Das dicke,

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