Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
gestern mittag nicht gesehen‹, dachte sie. ›Nun kommt er nicht so, daß ich ihm alles offen mitteilen könnte, sondern bringt diesen Jaschwin mit.‹ Und plötzlich fuhr ihr der seltsame Gedanke durch den Kopf: ›Wie, wenn er mich nicht mehr liebt?‹
Und indem sie die Ereignisse der letzten Tage vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen ließ, glaubte sie in allem eine Bestätigung dieser schrecklichen Vermutung zu sehen: darin, daß er gestern auswärts zu Mittag gespeist hatte, und darin, daß er darauf bestanden hatte, daß sie in Petersburg getrennt wohnen sollten, und darin, daß er auch jetzt nicht allein zu ihr kam, gerade als wenn er ein Zusammentreffen unter vier Augen vermeiden wollte.
›Aber er muß mir darüber die Wahrheit sagen. Ich muß das wissen. Und wenn ich es wissen werde, dann werde ich auch wissen, was ich zu tun habe‹, sagte sie zu sich selbst, obgleich sie nicht imstande war, sich eine Vorstellung von der Lage zu machen, in die sie kommen würde, wenn sie die Überzeugung von seiner Gleichgültigkeit gegen sie würde erlangt haben. Sie glaubte, daß er sie nicht mehr liebe, und war im höchsten Grade erregt, ja sie fühlte sich der Verzweiflung nahe. Sie klingelte der Kammerjungfer und ging in ihr Ankleidezimmer. Sie widmete heute ihrem Äußeren mehr Sorgfalt als all diese Tage über, als könnte er, wenn er sie nicht mehr liebte, sie um deswillen wieder von neuem liebgewinnen, weil sie das Kleid und die Frisur trug, die ihr am besten standen.
Noch ehe sie fertig war, hörte sie die Türklingel.
Als sie in das Besuchszimmer trat, war nicht Wronski, sondern Jaschwin der erste, der seinen Blick auf sie richtete. Wronski besah die Photographien ihres Sohnes, die sie aus Versehen auf dem Tisch hatte liegenlassen, und beeilte sich nicht, zu ihr aufzublicken.
»Wir kennen uns«, sagte sie, indem sie ihre kleine Hand in die gewaltige Tatze Jaschwins legte, der offenbar sehr verlegen war, was sich bei seiner hünenhaften Gestalt und seinen derben Gesichtszügen wunderlich genug ausnahm. »Wir haben uns im vorigen Jahre bei den Rennen kennengelernt. Bitte, geben Sie her«, sagte sie, indem sie Wronski mit einer raschen Bewegung die Photographien ihres Sohnes, die er besah, wegnahm und ihn mit ihren glänzenden Augen bedeutsam anblickte. »Waren die Rennen in diesem Jahre gut? Ich habe statt der Petersburger Rennen die Rennen auf dem Korso in Rom gesehen. Übrigens weiß ich, daß Sie das Leben im Auslande nicht lieben«, fuhr sie mit freundlichem Lächeln fort. »Ich kenne Sie und Ihren ganzen Geschmack, obgleich ich erst wenig mit Ihnen zusammengekommen bin.«
»Das tut mir sehr leid; denn ich besitze auf den allermeisten Gebieten einen recht schlechten Geschmack«, erwiderte Jaschwin und biß sich auf die linke Schnurrbartspitze.
Als die Unterhaltung noch ein Weilchen gedauert hatte und Jaschwin bemerkte, daß Wronski nach der Uhr sah, fragte er Anna, ob sie noch lange in Petersburg bleiben werde, und griff dabei, seine mächtige Gestalt geradebiegend, nach seinem Käppi.
»Ich glaube, nicht mehr lange«, antwortete sie verlegen und blickte nach Wronski hin.
»Dann sehen wir uns also wohl nicht mehr?« fragte Jaschwin, sich an Wronski wendend, und stand auf. »Wo speisest du heute zu Mittag?«
»Speisen Sie doch bei uns«, sagte Anna in entschlossenem Tone, als ob sie auf sich selbst wegen ihrer Verlegenheit ärgerlich sei; aber sie errötete, wie stets, wenn sie vor einem Fernerstehenden ihre Lage durchblicken ließ. »Das Essen ist hier zwar nicht besonders; aber wenigstens bleiben Sie auf diese Art mit Alexei zusammen. Alexei hat von allen seinen Regimentskameraden zu keinem eine solche Zuneigung wie zu Ihnen.«
»Mit großem Vergnügen«, erwiderte Jaschwin mit einem freundlichen Lächeln, aus dem Wronski erkannte, daß ihm Anna sehr gefiel.
Jaschwin empfahl sich und ging zur Tür; Wronski blieb noch zurück.
»Fährst du auch weg?« fragte sie ihn.
»Ja, ich muß mich beeilen; es ist mir schon etwas spät geworden«, antwortete er. »Geh nur! Ich komme dir sofort nach!« rief er Jaschwin zu.
Sie ergriff ihn bei der Hand, blickte ihn mit unverwandten Augen an und suchte in ihren Gedanken etwas, was sie ihm sagen könnte, um ihn zurückzuhalten.
»Warte einen Augenblick; ich möchte dir noch etwas sagen.« Sie nahm seine breite, kurze Hand und drückte sie gegen ihren Hals. »Ist es dir auch nicht unangenehm,
Weitere Kostenlose Bücher