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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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wohlgenährte kleine Mädchen drehte, wie immer beim Anblick der Mutter, die nackten, in den Gelenken wie von umgewickelten Fäden tief eingekerbten Ärmchen mit den Handflächen nach unten und begann, mit dem zahnlosen Mündchen lächelnd, mit den Händen zu rudern wie ein Fisch mit den Flossen und mit ihnen auf den gestärkten Falten seines gestickten Kleidchens herumzurascheln. Es war unmöglich, nicht zu lächeln, die Kleine nicht zu küssen; es war unmöglich, ihr nicht einen Finger hinzuhalten, den sie dann, vor Freude aufkreischend und mit dem ganzen Körper aufhüpfend, erfaßte; es war unmöglich, ihr nicht die Lippen hinzuhalten, die sie statt eines Kusses mit ihrem Mündchen umfaßte. Und alles dies tat Anna auch: sie nahm sie auf den Arm und ließ sie springen und küßte sie auf das frische Bäckchen und die nackten Ellbogen; aber beim Anblick dieses Kindes wurde es ihr noch klarer, daß das Gefühl, das sie für die Kleine empfand, im Vergleich mit demjenigen, das sie für Sergei hegte, eigentlich gar nicht Liebe zu nennen war. Alles an diesem kleinen Mädchen war entzückend; aber eigentümlicherweise wirkte alles dies nicht auf ihr Herz. Auf das erste Kind, wenn es auch von einem ungeliebten Vater stammte, hatte sie alle Kraft ihrer anderweitig unbefriedigt gebliebenen Liebe verwandt; das kleine Mädchen aber war unter den schrecklichsten Umständen geboren, und es war ihm nicht der hundertste Teil der Sorgfalt zuteil geworden, die dem ersten Kinde gewidmet worden war. Außerdem war bei dem kleinen Mädchen alles erst noch von der Zukunft zu er warten; Sergei dagegen war schon beinahe ein richtiger Mensch, und ein geliebter Mensch; in ihm kämpften schon Gedanken und Empfindungen; er verstand seine Mutter, er liebte sie, er hatte ein Urteil über sie; davon war sie, wenn sie sich seine Worte und Blicke vergegenwärtigte, überzeugt. Und nun war sie von ihm für immer nicht nur körperlich, sondern auch geistig getrennt, und es gab kein Mittel, dies zu ändern.
     
    Sie gab das kleine Mädchen der Amme zurück, entließ sie und öffnete eine Bildkapsel, in dem sich ein Bild Sergeis aus der Zeit befand, wo er ungefähr ebenso alt gewesen war wie jetzt die Kleine. Sie stand auf, legte den Hut ab und nahm von einem Tischchen ein Album, das Aufnahmen ihres Sohnes aus verschiedenen Lebensaltern enthielt. Sie wollte die Bilder miteinander vergleichen und machte sich deshalb daran, sie aus dem Album herauszunehmen. Sie hatte schon fast alle herausgenommen, und nur eines, das letzte und beste Bild, steckte noch darin. Er saß darauf in einer weißen Hemdbluse rittlings auf einem Stuhle, kniff die Augen finster zusammen und lächelte mit dem Munde. Das war eine ihm ganz besonders eigene Miene, bei der er am allerbesten aussah. Mit ihren kleinen, geschickten Händen, deren weiße, schlanke Finger sich jetzt besonders eifrig bewegten, erfaßte sie mehrmals ein Eckchen des Bildes; aber das Bild entschlüpfte ihr immer wieder, und sie konnte es nicht herausbekommen. Ein Papiermesser lag nicht auf dem Tische, und so zog sie denn das danebensteckende Bild aus der Einfassung (es war ein in Rom aufgenommenes Bild von Wronski, mit rundem Hut und mit langem Haar) und stieß damit das Bild ihres Sohnes heraus. ›Das ist ja sein Bild!‹ dachte sie, indem sie einen Blick auf das Bild Wronskis warf, und auf einmal erinnerte sie sich, wer die eigentliche Ursache ihres jetzigen Kummers war. Sie hatte diesen ganzen Morgen über auch nicht ein einziges Mal an ihn gedacht. Aber jetzt, da sie sein männliches, edles, ihr so wohlvertrautes und liebes Gesicht betrachtete, fühlte sie ein unerwartetes Aufwallen der Liebe in ihrem Herzen.
     
    ›Aber wo ist er denn? Wie kann er mich nur in meinem Leide allein lassen?‹ dachte sie plötzlich mit einem Gefühl des Vorwurfs und vergaß dabei, daß sie selbst ihm alles, was ihren Sohn betraf, verheimlicht hatte. Sie schickte zu ihm hinunter und ließ ihn bitten, sogleich zu ihr zu kommen; mit heftig klopfendem Herzen wartete sie auf ihn und sann im voraus darüber nach, mit welchen Worten sie ihm alles erzählen und mit welchen Versicherungen seiner Liebe er sie dann trösten werde. Der Bote kehrte mit der Antwort zurück, er habe Besuch von einem Herrn, werde aber gleich heraufkommen und lasse fragen, ob sie ihn mit seinem Gaste, dem Fürsten Jaschwin, der soeben in Petersburg angekommen sei, empfangen könne. ›Er legt keinen Wert darauf, allein zu kommen, und hat mich doch seit

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