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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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Grund? Hat er etwa deiner Schwägerin einen Heiratsantrag gemacht?«
     
    »Leicht möglich«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch. »Ich hatte gestern den Eindruck, als ob er so etwas vor hätte. Und wenn er früh wegging und übler Laune war, so wird es wohl so gewesen sein. Er ist schon so lange in sie verliebt und tut mir außerordentlich leid.«
     
    »Sieh, sieh! – Ich glaube übrigens, daß sie auf eine bessere Partie rechnen kann«, sagte Wronski, nahm eine selbstbewußte Haltung an und setzte seine Wanderung auf dem Bahnsteige fort. »Übrigens kenne ich ihn zu wenig«, fügte er hinzu. »Ja, das ist wohl eine unangenehme Lage! Darum ziehen auch die meisten den Umgang mit Damen der Halbwelt vor. Ein Mißerfolg bei einer solchen beweist nur, daß man nicht genug Geld hatte; aber hier liegt man mit seinem persönlichen Werte auf der Waagschale. – Aber da kommt der Zug.«
     
    Wirklich pfiff in der Ferne bereits die Lokomotive. Nach einigen Augenblicken erzitterte der Bahnsteig, und keuchend ihren Dampf ausstoßend, den die Kälte sogleich herunterdrückte, rollte die Lokomotive heran, mit dem langsam und taktmäßig sich zusammenbiegenden und ausstreckenden Hebel des Mittelrades und mit dem grüßenden, dick vermummten, reifbedeckten Maschinisten. Und hinter dem Tender, immer langsamer und mit immer stärkerer Erschütterung des Bahnsteiges, glitt der Wagen mit dem Gepäck und mit einem winselnden Hunde vorüber; endlich folgten die Personenwagen und blieben mit einem letzten Zittern stehen.
     
    Der Zugführer, eine hübsche, männliche Erscheinung, hatte noch während des Fahrens seine Signalpfeife ertönen lassen und sprang nun ab; unmittelbar nach ihm stiegen ungeduldige Fahrgäste einzeln aus: ein Gardeoffizier in sehr gerader Haltung, mit strenger Miene um sich blickend, ein vergnügt lächelnder junger, beweglicher Kaufmann mit einer Handtasche, ein Bauer mit einem Quersack auf der Schulter.
     
    Wronski, der neben Oblonski stand, betrachtete die Wagen und die Aussteigenden und hatte seine Mutter vollständig vergessen. Was er soeben über Kitty er fahren hatte, regte ihn auf und freute ihn. Unwillkürlich hob sich seine Brust, und seine Augen leuchteten. Er fühlte sich als Sieger.
     
    »Die Gräfin Wronskaja befindet sich in jenem Abteil dort«, sagte der forsche Zugführer, der an Wronski herantrat.
     
    Diese Worte des Zugführers rüttelten ihn aus seinen Gedanken auf und brachten ihm wieder seine Mutter und das bevorstehende Wiedersehen mit ihr in Erinnerung. Im Grunde seines Herzens hegte er keine besondere Verehrung für seine Mutter und auch keine Liebe, ohne sich über den Grund dafür eigentlich klar zu sein; jedoch konnte er, in Übereinstimmung mit den Anschauungen der Kreise, in denen er lebte, und infolge seiner Erziehung, sich gar kein anderes Verhältnis zu seiner Mutter vorstellen als das des unbedingten Gehorsams und der größten Hochachtung, und er bekundete Gehorsam und Hochachtung nach außen hin mit um so größerer Beflissenheit, je weniger er seine Mutter im Herzen verehrte und liebte.
     
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    1 (frz.) Ehrlos sei, wer Schlechtes dabei denkt (Wahlspruch des Hosenbandordens).
     
    2 (frz.) dem Namen nach.
     
    3 (engl.) nichts für mich, das schlägt nicht in mein Fach.
     

18
     
    W ronski folgte dem Zugführer zu dem Wagen und blieb am Eingang des Abteils stehen, um eine aussteigende Dame vorüberzulassen.
     
    Mit dem erfahrenen Urteile des Weltmannes hatte Wronski beim ersten Blicke auf die äußere Erscheinung dieser Dame ihre Zugehörigkeit zur besten Gesellschaft festgestellt. Er entschuldigte sich und schickte sich nun an, in den Wagen einzusteigen, fühlte sich jedoch veranlaßt, sich noch einmal nach ihr umzusehen, nicht deshalb, weil sie sehr schön war, auch nicht wegen ihrer vornehmen Erscheinung und bescheidenen Anmut, die in ihrer ganzen Gestalt zur Erscheinung kam, sondern weil in dem Ausdrucke des lieblichen Gesichtes, als sie an ihm vorbeiging, etwas ganz besonders Angenehmes und Freundliches gelegen hatte. Als er sich umschaute, wandte sie gleichfalls den Kopf zurück. Die glänzenden grauen, durch die dichten Wimpern schwarz erscheinenden Augen richteten sich mit prüfender Aufmerksamkeit und freundlichem Ausdrucke auf sein Gesicht, als ob sie in ihm einen Bekannten erkenne, wandten sich dann aber sofort von ihm ab und der vorüberströmenden Menge zu, als wenn sie dort jemand suchten. Dieser kurze Blick hatte Wronski doch die verhaltene Lebhaftigkeit

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