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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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Personen ausgewählt, lauter gleichgesinnte, fortschrittliche Mitglieder der neuen Partei und dabei geistreiche Männer von anständiger Denkart. Es wurden Trinksprüche ausgebracht, auch halb scherzhafte, auf den neuen Gouvernements-Adelsmarschall, und auf den Gouverneur, und auf den Bankdirektor, und auf »unsern liebenswürdigen Gastgeber«.
     
    Wronski war von dem ganzen Verlauf sehr befriedigt. Einen so netten Ton hatte er in der Provinz gar nicht erwartet.
     
    Gegen Ende des Mahles wurde es noch lustiger. Der Gouverneur bat Wronski, ein Wohltätigkeitskonzert zu besuchen, das seine Frau zum Besten der slawischen Brüder vorbereite; seine Frau habe den lebhaften Wunsch, ihn kennenzulernen.
     
    »An das Konzert schließt sich ein Ball, und du wirst dabei das schönste weibliche Wesen unserer Stadt zu sehen bekommen Wirklich, etwas Hervorragendes.«
     
    »Not in my line« 5 , antwortete Wronski, der diese Wendung liebte; aber er lächelte und versprach, hinzukommen.
     
    Man saß noch bei Tische und hatte eben angefangen zu rauchen, als Wronskis Kammerdiener zu ihm trat und ihm auf einer Platte einen Brief hinhielt.
     
    »Aus Wosdwischenskoje durch besonderen Boten«, sagte er mit wichtiger Miene.
     
    »Erstaunlich, welche Ähnlichkeit er mit dem Staatsanwaltschaftsgehilfen Swentizki hat«, sagte einer der Gäste auf französisch über den Kammerdiener, während Wronski mit finsterem Gesicht den Brief las.
     
    Der Brief war von Anna. Noch ehe Wronski ihn gelesen, hatte er schon seinen Inhalt gewußt. In der Voraussetzung, daß die Wahlen in fünf Tagen beendet sein würden, hatte er versprochen, am Freitag zurückzukommen. Heute war nun Sonnabend, und er wußte, der Brief enthielt Vorwürfe darüber, daß er nicht rechtzeitig zurückgekehrt war. Einen Brief, den er am vorhergehenden Abend abgeschickt, hatte Anna wahrscheinlich noch nicht bekommen gehabt.
     
    Der Inhalt des Briefes war wirklich so, wie er erwartet hatte; aber die Form war unerwartet und berührte ihn besonders unangenehm. »Anny ist sehr krank; der Arzt sagt, es sei vielleicht Lungenentzündung. So allein bin ich ratlos. Die Prinzessin Warwara ist keine Hilfe, sondern ein Hindernis. Ich habe Dich vorgestern und gestern erwartet und schicke jetzt zu Dir, um zu erfahren, wo Du bist und was Dich zurückhält. Ich wollte eigentlich selbst hinkommen, habe es mir aber dann anders überlegt, da ich weiß, daß es Dir unangenehm sein würde. Gib irgendwelche Antwort, damit ich weiß, was ich tun soll.«
     
    Sein Gedanke war: ›Das Kind ist krank, und sie hat selbst herkommen wollen! Die Tochter krank, und dieser feindselige Ton!‹
     
    Es war für Wronski ein schroffer Gegensatz: diese harmlose Fröhlichkeit während der Wahltage und jenes düstere, drückende Liebesverhältnis, zu dem er zurückkehren sollte. Aber er mußte hinfahren, und so benutzte er den ersten Nachtzug zur Heimreise.
     
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    1 (frz.) um nichts und wieder nichts.
     
    2 (frz.) General, der dem Hofe angehörte.
     
    3 (frz.) den er aufzumuntern versuchte.
     
    4 (frz.) den Telegraphen spielen zu lassen.
     
    5 (engl.) Nichts für mich!
     

32
     
    V or Wronskis Abreise zu den Wahlen hatte Anna überlegt, daß die Auftritte, die sich jedesmal, wenn er irgendwohin reiste, zwischen ihnen wiederholten, nur dazu dienen konnten, ihn ihr zu entfremden, nicht aber, ihn an sie zu fesseln, und sie hatte sich deshalb vorgenommen, sich mit aller Gewalt zu beherrschen, um den Abschied von ihm mit Ruhe zu ertragen. Aber der kalte, strenge Blick, mit dem er sie angesehen hatte, als er gekommen war, um ihr von seiner bevorstehenden Abreise Mitteilung zu machen, hatte sie schmerzlich gekränkt, und er war noch nicht abgefahren, als auch schon ihre Ruhe dahin war.
     
    In der Einsamkeit sann sie dann immer wieder über diesen Blick nach, in dem Wronskis Rechtsanspruch auf Freiheit zum Ausdruck gekommen war, und gelangte, wie stets, zu dem gleichen Ergebnis: zu dem Bewußtsein ihrer Erniedrigung. ›Er hat das Recht wegzufahren, wann und wohin er will. Und nicht nur wegzufahren, sondern auch mich ganz zu verlassen. Er hat alle Rechte, und ich habe gar keine. Aber eben, weil er das weiß, sollte er nicht so handeln ... Indessen, was hat er denn eigentlich getan? Er hat mich mit kalter, strenger Miene angeblickt. Selbstverständlich ist das nichts Bestimmbares, nichts Greifbares; aber früher kam das nicht vor, und dieser Blick ist ein bedeutungsvolles Zeichen‹, sagte sie zu sich. ›Dieser

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