Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
monatelang mit der Schlinge um den Hals in Gewahrsam hielte und ihn bald den Tod, bald die Begnadigung erwarten ließe. Habe Mitleid mit ihr, und dann will ich es übernehmen, alles so einzurichten ... Vos scrupules 1 ...«
»Davon spreche ich nicht«, unterbrach ihn Alexei Alexandrowitsch voll Widerwillen. »Aber vielleicht habe ich etwas versprochen, was ich nicht berechtigt war zu versprechen.«
»Also willst du dein Versprechen zurücknehmen?«
»Ich habe mich nie geweigert, ein Versprechen zu erfüllen, sofern es möglich war; aber ich möchte Zeit haben, um zu überlegen, wieweit die Erfüllung dieses Versprechens möglich ist.«
»Nein, Alexei Alexandrowitsch«, rief Oblonski aufspringend, »das will ich nicht glauben! Sie ist so tief unglücklich, wie es eine Frau überhaupt sein kann, und du kannst ihr eine solche Bitte nicht abschlagen.«
»Soweit die Erfüllung meines Versprechens möglich ist. Vous professez d'être un libre penseur. 2 Aber ich als gläubiger Mensch kann in einer so wichtigen Sache nicht gegen das christliche Gebot handeln.«
»Aber in der Christenheit und auch bei uns, soviel ich weiß, ist doch die Scheidung gestattet«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. »Auch unsere Kirche gestattet die Scheidung. Und wir sehen ...«
»Gestattet ist sie; aber nicht in diesem Sinne.«
»Alexei Alexandrowitsch, ich erkenne dich gar nicht wieder«, begann Oblonski nach einer kurzen Pause von neuem. »Hast du denn nicht (wir haben dich ja doch deswegen dankbar bewundert) alles verziehen, und warst du nicht, gerade von deinem christlichen Gefühle getrieben, bereit, jedes Opfer zu bringen? Du hast ja selbst gesagt, du wolltest auch den Rock hingeben, wenn man dir den Mantel nehme, und nun ...«
»Ich bitte Sie«, sagte Alexei Alexandrowitsch, plötzlich aufstehend, mit zitternder Kinnlade und dünner, pfeifender Stimme, »ich bitte Sie, dieses Gespräch ... dieses Gespräch abzubrechen.«
»Oh, oh! Nun, verzeih mir, verzeih mir, wenn ich dir weh getan habe«, antwortete Stepan Arkadjewitsch mit einem verlegenen Lächeln und streckte ihm die Hand hin. »Aber ich habe doch nur als Abgesandter meinen Auftrag ausgerichtet.«
Alexei Alexandrowitsch reichte ihm die Hand, dachte ein Weilchen nach und sagte dann:
»Ich muß es überlegen und nach einem Zeichen suchen. Übermorgen werde ich Ihnen meine endgültige Antwort geben«, fügte er hinzu; es schien ihm ein Gedanke gekommen zu sein.
----
1 (frz.) Ihre Bedenken.
2 (frz.) Sie bekennen offen, ein Freidenker zu sein.
19
S tepan Arkadjewitsch war eben im Begriff wegzugehen, als Kornei hereinkam und meldete:
»Sergei Alexejewitsch!«
›Wer ist das, Sergei Alexejewitsch?‹ wollte Stepan Arkadjewitsch schon fragen, besann sich jedoch noch rechtzeitig.
»Ach, der kleine Sergei!« rief er. Und bei sich dachte er: ›Also der heißt jetzt Sergei Alexejewitsch. Und ich glaubte, es wäre der Subdirektor.‹ Und zugleich fiel ihm ein: ›Anna hat mich ja gebeten, ihn mir anzusehen, was er macht und wie es ihm geht.‹
Und er erinnerte sich an den schüchternen, mitleiderregenden Gesichtsausdruck, mit dem sie ihm beim Abschied gesagt hatte: »Du wirst ihn ja doch zu sehen bekommen. Bringe genau in Erfahrung, wo er lebt und wer um ihn ist. Und, Stiwa ... wenn es möglich wäre! Sollte es nicht möglich sein?« Stepan Arkadjewitsch hatte verstanden, was dieses »wenn es möglich wäre« bedeutete: wenn es möglich wäre, die Scheidung in der Weise zustande zu bringen, daß der Sohn ihr überlassen würde ... Aber jetzt sah Stepan Arkadjewitsch ein, daß daran überhaupt nicht zu denken sei. Indessen freute er sich trotzdem, seinen Neffen wiederzusehen.
Alexei Alexandrowitsch machte seinen Schwager darauf aufmerksam, daß mit dem Sohne niemals von der Mutter gesprochen werde, und ersuchte ihn, ihrer mit keinem Worte Erwähnung zu tun.
»Er ist nach jenem Wiedersehen mit seiner Mutter, das wir nicht hatten vorhersehen können, sehr krank gewesen«, sagte Alexei Alexandrowitsch. »Wir fürchteten sogar für sein Leben. Aber eine verständige ärztliche Behandlung und Seebäder im Sommer haben seine Gesundheit wiederhergestellt, und jetzt habe ich ihn auf den Rat des Arztes auf die Schule gegeben. In der Tat hat der Umgang mit gleichaltrigen Kameraden auf ihn günstig gewirkt, und er ist jetzt völlig gesund und lernt gut.«
»Das ist aber ein strammer Kerl
Weitere Kostenlose Bücher