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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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kindlich, nicht mehr ganz unschuldsvoll blickten. Und obwohl er seinem Schwager versprochen hatte, nicht von Anna zu reden, so konnte er sich doch nicht überwinden.
     
    »Denkst du noch an deine Mutter?« fragte er unvermittelt.
     
    »Nein, ich denke nicht an sie«, murmelte Sergei hastig, wurde dunkelrot und schlug die Augen nieder. Und nun konnte der Onkel nichts mehr aus ihm herausbringen.
     
    Eine halbe Stunde darauf fand der russische Hofmeister seinen Zögling noch immer auf der Treppe und konnte lange nicht daraus klug werden, ob er ergrimmt sei oder weine.
     
    »Nun? Sie haben sich gewiß in der Schule beim Hinfallen weh getan?« sagte der Hofmeister. »Ich habe es ja immer gesagt, daß das ein gefährliches Spiel ist. Man müßte es dem Direktor anzeigen.«
     
    »Wenn ich mir auch wirklich weh getan hätte, dann würde ich doch niemand etwas davon merken lassen. Das steht doch bombenfest.«
     
    »Nun also, was ist denn los?«
     
    »Ach, laßt mich in Ruhe! ... Ob ich daran denke oder nicht ... Was geht ihn das an? Wozu soll ich daran denken? Laßt mich in Ruhe!« rief er nicht dem Hofmeister, sondern der ganzen Welt zu.
     

20
     
    S tepan Arkadjewitsch verbrachte in Petersburg, wie bei früheren Aufenthalten, so auch diesmal seine Zeit keineswegs müßig. Einerseits nahmen ihn seine geschäftlichen Angelegenheiten in Anspruch, das heißt die Scheidung seiner Schwester und die Bemühung um eine Stelle für sich; außerdem aber fühlte er, wie bei früheren Aufenthalten in Petersburg, das Bedürfnis, sich, wie er sagte, nach dem stockenden Moskauer Leben wieder aufzufrischen.
     
    Moskau war trotz seiner cafés chantants 1 und seiner Omnibusse doch eigentlich nur ein stehender Sumpf. Diese Empfindung hatte Stepan Arkadjewitsch stets. Wenn er eine Weile in Moskau und namentlich im Kreise seiner Familie gelebt hatte, so fühlte er, daß sein Lebensmut zu sinken anfing; und wenn er lange, ohne einmal fortzureisen, in dieser Stadt gelebt hatte, dann kam es so weit, daß er sich über die Verstimmungen und Vorwürfe seiner Frau, über die Gesundheit und Erziehung der Kinder und über kleine dienstliche Angelegenheiten zu beunruhigen begann; sogar über seine Schulden machte er sich dann Gedanken. Aber er brauchte nur nach Petersburg zu kommen und dort ein Weilchen in seinem Umgangskreise zu verkehren, wo man lebte, wirklich lebte und nicht nur vegetierte wie in Moskau, so waren alle diese trüben Gedanken verschwunden und wie Wachs am Feuer dahingeschmolzen.
     
    Seine Frau? ... Erst heute hatte er ein Gespräch mit dem Fürsten Tschetschenski gehabt. Dieser Fürst hatte Frau und Kinder, erwachsene Söhne im Pagenkorps; aber daneben hatte er noch eine uneheliche Frau und auch von dieser mehrere Kinder. Und obgleich auch die erste Familie ganz nett und angenehm war, so fühlte sich der Fürst Tschetschenski doch in der zweiten Familie glücklicher. Er hatte sogar seinen ältesten Sohn in die zweite Familie eingeführt und äußerte sich zu Stepan Arkadjewitsch dahin, er fände, daß das seinem Sohne nützlich und für seine Entwicklung zuträglich sei. Was hätte man wohl dazu in Moskau gesagt?
     
    Die Kinder? ... In Petersburg waren die Kinder den Vätern nicht hinderlich, das Leben zu genießen. Die Kinder wurden in Instituten erzogen, und man hatte hier nicht die wunderliche, in Moskau immer mehr um sich greifende Anschauung (Beispiel: Lwow), daß den Kindern alle Annehmlichkeiten des Lebens zukämen und auf das Teil der Eltern nur die Arbeit und die Sorgen fielen. Hier hatte man Verständnis dafür, daß der Mensch verpflichtet sei, für sich selbst zu leben, und zwar so, wie ein gebildeter Mensch eben leben muß.
     
    Der Dienst? ... Der Dienst war hier gleichfalls nicht jene unerbittliche, hoffnungslose Tretmühle, in der man sich in Moskau abarbeitete; hier konnte man an der dienstlichen Tätigkeit Geschmack finden. Eine Begegnung in der Gesellschaft, eine erwiesene Gefälligkeit, ein treffendes Witzwort, die Kunst, allerlei Personen komisch nachzuahmen – das genügte, und man wurde auf einmal befördert, so wie dieser Brjanzew, mit dem Stepan Arkadjewitsch gestern zusammengetroffen war und der jetzt eines der höchsten Ämter bekleidete. Einer derartigen dienstlichen Tätigkeit konnte man Geschmack abgewinnen.
     
    Ganz besonders aber wirkte die Auffassung, die man in Petersburg für Geldsachen hatte, auf Stepan Arkadjewitsch beruhigend. Bartnjanski, der, nach seiner Lebensweise zu urteilen,

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