Fenster zum Zoo
1. Kapitel
D anach irrte sie voller Panik durch die Straßen.
Sie verlief sich, wusste nicht mehr, wo sie war, ehe sie ans Wasser kam. An den Rhein. Sie lief den gepflasterten Weg hinunter zum Ufer. Das Wasser war schwarz in der Nacht, schlug gluckernd gegen das Ufer, und es roch nach Öl und Tang. Kleine Schaumkronen schoben sich an Land.
Wasser zog sie an, schon immer. Als Kind war sie gerne geschwommen. Aber das war lange her. Sie wusste nicht, ob sie es noch konnte, ob man Schwimmen verlernen kann oder ob es ist wie Gehen und Laufen.
Sie ging in die Hocke, um Luft zu holen und nachzudenken, nur einen Moment. Sie sah sich um. Zur Mülheimer Brücke hin wurde die Uferwiese mit ihren einzelnen Bäumen und Büschen breiter. Manchmal graste hier eine Schafherde. Manchmal schliefen hier Jugendliche unter freiem Himmel. Heute war sie allein.
Und trotzdem fühlte sie sich beobachtet.
Ein Frachtschiff glitt vorbei, sie hörte den tuckernden Motor des Schiffes erst, als es auf gleicher Höhe mit ihr war. Es lag hoch im Wasser, von jeder Last befreit, und fuhr flussabwärts, Richtung offenes Meer. Ein Licht brannte im Fährhaus und eines an Bug und Heck. Wäsche flatterte auf einer Leine. Sie wünschte, sie könnte einfach aufspringen, wegfahren, nur weg – nach dem, was geschehen war. Schon wieder weg.
Sie begriff es immer noch nicht. Sie hatte an alles gedacht, alles geplant. Es hätte nicht passieren dürfen. Gerade ihr nicht. Und nicht hier in Köln.
Sie war noch nicht lange hier, kein halbes Jahr, und es hatte gut angefangen. Jetzt wäre es vollkommen gewesen, ein wirklicher Neubeginn. Sie war gern hier. Nicht unbedingt in der Stadt, von der sie kaum etwas wusste, sondern im Zoo. Sie war es nicht gewöhnt, mit offenen Armen empfangen zu werden. Aber ihr Kollege Mattis war nicht wütend auf sie gewesen, als sie die Bären übernommen hatte, die er bis dahin gepflegt hatte. Sie an seiner Stelle wäre wütend gewesen, mehr als das. Sie hätte den Zoo sofort verlassen. Nichts hätte sie dort mehr halten können. Nichts.
Und jetzt hatte sie alles aufs Spiel gesetzt. Jedes Wort von ihr würde eine andere Bedeutung haben. Alles, was sie tat, würde beobachtet werden. Wenn der Verdacht erst einmal da war, blieb er haften – vielleicht zu Recht, vielleicht die Strafe für bodenlosen Leichtsinn.
Es war eine warme Nacht, und sie zog die schweren Arbeitsschuhe und die groben Socken aus, in denen ihre Füße brannten, wie immer nach einem langen Tag. Sie ging ins Wasser. Knietief watete sie am Ufer entlang, aber ihre Füße kühlten nicht ab.
Woher ihre Leidenschaft für Bären kam, wusste sie nicht genau. Vielleicht hatte es mit dem hellbraunen Stoffbären angefangen, den ihr Vater ihr geschenkt hatte, als sie noch nicht einmal vier gewesen war, und der Vater kurz darauf für immer aus ihrem Leben verschwand. Danach war sie viel allein, ihre Mutter ging wieder arbeiten, ließ sie tagsüber bei der Nachbarin zurück und nachts allein in ihrem Bett. Der neue Vater, der eines Tages auftauchte, war nicht wie der alte. Man konnte Väter nicht einfach austauschen.
Aber was ist ein Stoffbär gegen einen ausgewachsenen Braunbären. Gegen einen Grizzly. Seine Größe war es, die sie am meisten beeindruckte. Nein, angefangen hatte es mit dem Zirkus. Nicht mit dem Stoffbären. Der Zirkus war in die Stadt gekommen. Und der Zirkus hatte einen Tanzbären gehabt.
Erst hatte sie mit den anderen Kindern geklatscht, als er seine Runden aufrecht stehend drehte, im Takt der Musik. Zwar hatten sie der Maulkorb und die Leine, an der er hilflos hing, gestört, doch es hatte lustig ausgesehen. Erst viel später fand sie es demütigend, als sie durch einen Zufall erfuhr, wie ein Dompteur einen Bären zum Tanzen bringt; der Zufall, der ihr Leben veränderte.
Unvergesslich die Vorstellung, den Bären zu einer bestimmten Musik auf einer brennend heißen Fläche aufrecht stehen zu lassen. Die Musik vergisst der Bär nie mehr. Wenn er sie hört, erinnert er sich an die unerträgliche Hitze und hebt seine Tatzen auf und ab, um sie ertragen zu können.
Und es war, als hätte ihre kindliche Welt Risse bekommen.
Sie hörte ein Plätschern, vielleicht ein Fisch, der hochgesprungen war, aber dann sah sie den Punkt in den schaukelnden Wellen. Einen Punkt an einem Faden, und der Faden führte an Land, und da saß er. Der Angler.
Er saß ein paar Meter von ihr entfernt zwischen zwei niedrigen Büschen. Er musste sie gesehen haben, als sie gekommen
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