Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
ging, um die ihrige mit ihr zu vergleichen, fuhr ein Wagen vor. Sie sah aus dem Fenster und erblickte Wronskis Kutsche. Aber es kam niemand die Treppe herauf, und unten hörte sie Stimmen. Es war der Bote, den sie abgeschickt hatte, und der nun in dem Wagen zurückgekommen war. Sie ging zu ihm hinunter.
»Ich habe den Herrn Grafen nicht mehr angetroffen. Der Herr Graf war nach dem Nischegoroder Bahnhof gefahren.«
»Was willst du noch? Was hast du da?« fragte sie den lustigen, rotbackigen Michail, der ihr ihren Brief wieder zurückgab.
›Ach ja, er hat ihn ja nicht bekommen‹, fiel ihr ein.
»Fahre mit diesem Briefe zu der Gräfin Wronskaja nach ihrem Landgute, du weißt es ja wohl? Und bringe mir sofort Antwort«, sagte sie zu dem Boten.
›Und ich? Was werde ich selbst unterdessen tun?‹ überlegte sie. ›Ja, ich will zu Dolly fahren, das ist wahr; sonst werde ich noch wahnsinnig. Ich kann ja auch noch an ihn telegrafieren.‹ Und sie schrieb ein Telegramm:
»Ich muß Sie notwendig sprechen; kommen Sie sogleich.«
Nachdem sie es abgesandt hatte, ging sie in ihr Zimmer, um sich anzukleiden. Als sie fertig war und den Hut auf dem Kopfe hatte, blickte sie noch einmal der braven, ruhigen Annuschka in die Augen (sie hatte sich vor einiger Zeit verheiratet und nun vollere Körperformen bekommen). Unverkennbares Mitgefühl sprach aus Annuschkas kleinen, gutmütigen, grauen Augen.
»Annuschka, liebe Annuschka, was soll ich tun?« sagte Anna schluchzend und ließ sich hilflos auf einen Sessel sinken.
»Warum beunruhigen Sie sich so, Anna Arkadjewna! So etwas kommt ja überall vor. Fahren Sie aus; da werden Sie auf andere Gedanken kommen«, sagte die Dienerin.
»Ja, ich will ausfahren«, sagte Anna mit wiedergewonnener Fassung und stand auf. »Wenn in meiner Abwesenheit ein Telegramm kommen sollte, so soll es zu Darja Alexandrowna geschickt werden ... Oder nein, ich werde selbst bald zurück sein.«
›Ja, ich darf nicht denken, ich muß irgend etwas tun: ausfahren, vor allen Dingen aus diesem Hause herauskommen‹, sagte sie zu sich selbst und horchte voll Angst auf das furchtbare Pochen ihres Herzens. Sie ging rasch aus dem Hause und setzte sich in den Wagen.
»Wohin befehlen Sie?« fragte der Diener Peter, bevor er zum Kutscher auf den Bock stieg.
»Nach der Snamenka, zu Oblonskis.«
28
D as Wetter war heiter und klar. Den ganzen Morgen über war ein dichter, feiner Regen gefallen, und erst vor kurzem hatte es sich aufgehellt. Die Blechdächer, die Fußwegplatten, die Pflastersteine, die Räder und das Lederzeug und die Messing- und Blechteile an den Wagen, alles glänzte hell in den Strahlen der Maisonne. Es war drei Uhr, also die Zeit, wo es auf den Straßen am lebhaftesten zugeht.
In einer Ecke des sanft fahrenden Wagens sitzend, der sich bei dem schnellen Trabe der davorgespannten Grauen kaum in den schmiegsamen Federn schaukelte, ging Anna, trotz des unaufhörlichen Rasselns der Räder und des schnellen Wechsels der in der reinen Luft vorüberziehenden Bilder, von neuem die Ereignisse der letzten Tage in ihrem Gedächtnisse durch und gelangte jetzt zu einer ganz anderen Auffassung ihrer Lage als vorher zu Hause. Jetzt stand ihr der Gedanke an den Tod nicht mehr in so furchtbarer Klarheit vor Augen, und der Tod selbst erschien ihr nicht mehr unvermeidlich. Jetzt machte sie sich Vorwürfe wegen der Selbstdemütigung, zu der sie sich herbeigelassen hatte. ›Ich flehe ihn an, mir zu verzeihen. Ich habe mich ihm unterworfen, habe bekannt, daß ich an allem schuld bin. Warum? Kann ich denn ohne ihn nicht leben?‹ Und ohne sich eine Antwort auf die Frage zu geben, wie sie es anfangen wolle, ohne ihn zu leben, begann sie die Firmenschilder zu lesen. ›Kontor und Niederlage. Zahnarzt ... Ja, ich will Dolly alles sagen. Sie kann Wronski nicht leiden. Ich werde mich dabei schämen müssen, und es wird mir ein großer Schmerz sein; aber trotzdem will ich ihr alles sagen. Sie hat mich gern, und ich will ihrem Rate folgen. Ich werde mich ihm nicht unterwerfen und nicht dulden, daß er den Versuch macht, mich zu erziehen. Filippow, Feinbäckerei. Es heißt, daß manche Bäcker Teig von hier nach Petersburg schicken. Das Moskauer Wasser ist vorzüglich. Ja, die Wasserleitung von Mütischtschi; daher auch die guten Pfannkuchen.‹ Und sie erinnerte sich, wie sie vor langer, langer Zeit (sie war damals erst siebzehn Jahre alt gewesen) mit ihrer
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