Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
weiß auch, daß ich ihm von jenem ersten Augenblick an alles geopfert habe. Und das ist nun mein Lohn! Oh, wie ich ihn hasse! Und wozu bin ich hierhergekommen? Hier ist mir nur noch schlimmer zumute, hier fühle ich mich nur noch mehr niedergedrückt.‹ Sie hörte von dem anderen Zimmer her die Stimmen der Schwestern, die miteinander sprachen. ›Und was soll ich jetzt zu Dolly sagen? Soll ich Kitty damit eine Genugtuung bereiten, daß ich sie sehen lasse, wie unglücklich ich bin? Soll ich mich von ihr beschützen lassen? Nein, auch Dolly wird für meine Verfassung kein Verständnis haben, und ich weiß gar nicht, was ich ihr sagen könnte. Es würde mich nur interessieren, Kitty zu sehen und ihr zu zeigen, wie ich jetzt alle und alles verachte, wie gleichgültig mir jetzt alles ist.‹
Dolly kam mit dem Briefe wieder herein. Anna las ihn durch und reichte ihn ihr schweigend zurück.
»Das habe ich alles gewußt«, sagte sie dann. »Und das alles ist für mich auch belanglos.«
»Aber warum denn? Ich meinerseits habe Hoffnung«, erwiderte Dolly und blickte Anna prüfend an. Sie hatte sie noch nie in einem so sonderbaren, gereizten Zustand gesehen. »Wann reist du denn ab?« fragte sie.
Anna blickte mit halb zugekniffenen Augen vor sich hin und antwortete nicht.
»Warum versteckt sich denn Kitty vor mir?« fragte sie mit einem Blick nach der Tür und errötete.
»Ach, Torheit! Sie nährt selbst, und das geht nicht recht vonstatten, und da habe ich ihr geraten ... Sie wird sich sehr freuen. Sie kommt sofort«, brachte Dolly in ungeschickter Weise heraus, da sie sich nicht darauf verstand, die Unwahrheit zu sagen. »Da ist sie ja schon.«
Als Kitty gehört hatte, daß Anna gekommen sei, hatte sie nicht zu ihr hereinkommen wollen; aber Dolly hatte sie doch dazu überredet. Sich zusammennehmend, kam Kitty herein, ging errötend auf Anna zu und reichte ihr die Hand.
»Ich freue mich sehr«, sagte sie mit zitternder Stimme.
Kitty war verlegen infolge des Kampfes, der in ihrer Seele zwischen der feindseligen Gesinnung gegen diese schlechte Frau und dem Wunsche, gegen sie Nachsicht zu üben, vorging; aber sobald sie Annas schönes, anziehendes Gesicht erblickte, war sofort alle Feindschaft verschwunden.
»Ich würde mich nicht gewundert haben, wenn Sie gewünscht hätten, mit mir nicht zusammenzutreffen. Ich bin an all dergleichen gewöhnt. Sie sind krank gewesen? Ja, Sie sehen recht verändert aus«, sagte Anna.
Kitty fühlte, daß Annas auf sie gerichteter Blick etwas Feindseliges hatte. Sie erklärte sich diese Feindseligkeit durch die peinliche Lage, in der sich Anna, von der sie selbst früher Beistand angenommen hatte, ihr gegenüber jetzt befand, und empfand inniges Mitleid mit ihr.
Sie sprachen über Kittys Krankheit, über Kittys Kind, über Stiwa; aber Anna interessierte sich offenbar für das alles nicht.
»Ich bin gekommen, um dir Lebewohl zu sagen«, sagte sie, indem sie aufstand.
»Wann reist ihr denn?«
Aber Anna gab wieder keine Antwort, sondern wandte sich zu Kitty.
»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen«, sagte sie lächelnd.
»Ich habe soviel über Sie von allen Seiten gehört, sogar aus dem Munde Ihres Mannes. Er hat mir einen Besuch gemacht und mir sehr gut gefallen«, fügte sie, offenbar in böser Absicht, hinzu. »Wo ist er denn jetzt?«
»Er ist aufs Land gefahren«, antwortete Kitty errötend.
»Grüßen Sie ihn von mir; bitte, vergessen Sie es nicht.«
»Ich werde es bestimmt nicht vergessen«, erwiderte Kitty harmlos und blickte ihr voll Mitleid in die Augen.
»Also dann leb wohl, Dolly!« Anna küßte Dolly, drückte Kitty die Hand und ging rasch hinaus.
»Sie ist immer noch dieselbe und immer noch ebenso anziehend. Eine sehr schöne Frau!« sagte Kitty, als sie mit ihrer Schwester wieder allein war. »Aber es ist etwas Mitleiderregendes an ihr, etwas entsetzlich Mitleiderregendes.«
»Ja, heute war sie ganz eigentümlich«, versetzte Dolly. »Als ich sie ins Vorzimmer hinausbegleitete, kam es mir vor, wie wenn sie losweinen wollte.«
29
A nna setzte sich nach diesem Besuche in schlimmerem Seelenzustande in den Wagen als beim Wegfahren von zu Hause. Zu ihren früheren Qualen war jetzt noch das Gefühl gekommen, das sie bei der Begegnung mit Kitty deutlich empfunden hatte: daß sie auch von dieser verachtet und verschmäht werde.
»Wohin befehlen Sie? Nach Hause?«
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