Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Mädchen sprach. Er glaubte, was ihm gemeldet wurde, fühlte kein Bedürfnis, noch Weiteres in Erfahrung zu bringen, und begab sich auf sein Zimmer. Folglich war alles zu Ende.
Klar und deutlich stand ihr der Tod als das einzige Mittel vor Augen, um in seinem Herzen die Liebe zu ihr wieder zu erwecken, ihn zu bestrafen und den Sieg in dem Kampfe zu behaupten, den sie oder vielmehr der in ihrem Herzen hausende böse Geist mit diesem Manne führte.
Jetzt war es ganz gleich, ob sie nach Wosdwischenskoje fuhr oder nicht, ob sie von ihrem Manne die Scheidung erlangte oder nicht; all das war nicht von Wichtigkeit. Nur eines war wichtig und notwendig: er mußte bestraft werden.
Als sie sich die gewohnte Dosis Opium eingoß und überlegte, daß sie nur das ganze Fläschchen auszutrinken brauche, um zu sterben, da erschien ihr das als eine so leichte, einfache Sache, daß sie wieder mit einem gewissen Genuß daran dachte, wie er sich grämen und sein Verhalten bereuen und ihrer in Liebe gedenken werde, wenn es nun zu spät sein würde. Sie lag mit offenen Augen im Bett und blickte beim Licht einer einzigen, tief herabgebrannten Kerze nach den Stuckverzierungen der Zimmerdecke und nach dem Schatten des Bettschirms, der einen Teil der Decke verdunkelte, und stellte sich lebhaft seine Empfindungen vor, wenn sie nun nicht mehr leben und für ihn nur noch eine Erinnerung sein würde. ›Wie habe ich nur so grausame Worte zu ihr sprechen können?‹ würde er sagen. ›Wie habe ich aus dem Zimmer gehen können, ohne mit ihr zu sprechen. Aber jetzt ist sie dahin. Sie ist für allezeit von uns gegangen. Sie ist dort ...‹ Plötzlich begann der Schatten des Bettschirms zu schwanken und dehnte sich über das ganze Gesims und die ganze Zimmerdecke aus; andere Schatten liefen ihm von der anderen Seite her entgegen; für einen Augenblick huschten die Schatten wieder davon; aber dann rückten sie von neuem mit erhöhter Geschwindigkeit heran, zuckten hin und her, flossen zusammen, und alles wurde dunkel. ›Das ist der Tod!‹ dachte sie. Und es packte sie eine solche Angst, daß sie lange nicht darüber ins klare kommen konnte, wo sie eigentlich war, und lange nicht imstande war, mit den zitternden Händen die Streichhölzer zu finden und eine andere Kerze für die heruntergebrannte und erloschene anzuzünden. ›Nein, alles, alles – nur leben, leben! Ich liebe ihn ja. Und er liebt mich ja auch. Dieser Streit ist abgetan und wird verklingen‹, sagte sie bei sich und fühlte, wie Tränen der Freude über die Rückkehr zum Leben über ihre Wangen liefen. Und um sich vor ihrer Angst zu retten, ging sie rasch zu ihm in sein Zimmer.
Er lag dort in festem Schlafe. Sie trat zu ihm heran, beleuchtete sein Gesicht von oben her und betrachtete es lange. Jetzt, wo er schlafend vor ihr lag, liebte sie ihn so, daß sie bei seinem Anblick Tränen der Zärtlichkeit nicht zurückhalten konnte; aber sie wußte, daß, wenn er jetzt aufwachte, er sie im Gefühl seines Rechtes mit kaltem Blick ansehen würde, und daß sie, bevor sie zu ihm von ihrer Liebe sprechen könnte, ihm zuerst würde beweisen müssen, wie sehr er ihr gegenüber im Unrecht sei. So kehrte sie, ohne ihn geweckt zu haben, in ihr Zimmer zurück und versank nach einer zweiten Dosis Opium gegen Morgen in einen schweren Halbschlaf, währenddessen sie sich ihrer selbst die ganze Zeit über bewußt blieb.
Ein schrecklicher Traum, der sich bei ihr schon mehrmals, noch vor der Verbindung mit Wronski, wiederholt hatte, ängstigte sie gegen Morgen wieder einmal und weckte sie auf: Ein altes Männchen mit wirrem Barte bückte sich über allerlei Eisenwerk und nahm damit irgend etwas vor, wobei er sinnlose französische Worte vor sich hinredete; und wie immer bei diesem Traume fühlte sie (und eben dies war das Beängstigende), daß dieser Mensch sie gar nicht beachtete, obwohl er seine furchtbare Tätigkeit an dem Eisen über ihrem Körper ausführte. Sie erwachte in kalten Schweiß gebadet.
Als sie aufstand, erinnerte sie sich an den gestrigen Tag nur wie durch einen Nebel.
›Es hat ein Streit stattgefunden. Dergleichen ist schon mehrmals vorgekommen. Ich habe ihm sagen lassen, ich hätte Kopfschmerzen, und er ist nicht mehr zu mir hereingekommen. Morgen reisen wir ab; ich muß mit ihm sprechen und mich zur Abreise fertigmachen‹, sagte sie zu sich selbst. Als sie erfuhr, daß er in seinem Zimmer sei, ging sie zu ihm hin. Während sie durch das Besuchszimmer
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