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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Bildnis bei ihm zu bestellen. »Wissen Sie was?« unterbrach sie entschlossen den
    Schriftsteller, der in seinem Eifer kein Ende finden konnte. »Wir wollen ihm einen Besuch machen!«
    Golenischtschew merkte, daß er zu eifrig geworden war, brach ab und erklärte sich gern einverstanden. Da der
    Künstler in einem entfernten Stadtteil wohnte, so entschieden sie sich dafür, einen Wagen zu nehmen.
    Eine Stunde darauf fuhren sie, Anna neben Golenischtschew, Wronski auf dem Vordersitze des Wagens, bei einem
    neuen, unschönen Hause in jenem entlegenen Stadtteil vor. Von der Frau des Hauswartes, die herauskam, erfuhren sie,
    Michailow pflege den Besuch seines Ateliers zu gestatten, befinde sich aber augenblicklich gerade in seiner nur ein
    paar Schritte davon gelegenen Wohnung; sie schickten sie daher mit ihren Besuchskarten zu ihm und ließen um die
    Erlaubnis bitten, seine Bilder betrachten zu dürfen.

10
    Der Maler Michailow war wie immer bei der Arbeit, als ihm die Karten des Grafen Wronski und Golenischtschews
    überbracht wurden. Den Vormittag über hatte er in seinem Atelier an seinem großen Gemälde gearbeitet. Nach Hause
    zurückgekehrt, hatte er sich über seine Frau geärgert, weil sie nicht verstanden hatte, die Hauswirtin, die
    durchaus Geld hatte haben wollen, richtig zu behandeln.
    »Zwanzigmal habe ich dir schon gesagt: laß dich auf keine Auseinandersetzungen ein. Du bist so schon dumm genug;
    aber wenn du nun gar anfängst, auf italienisch zu debattieren, so nimmst du dich noch dreimal dümmer aus«, sagte er
    nach einem längeren Gezänk zu ihr.
    »Dann sorge du dafür, daß in unserer Kasse nicht immer Ebbe ist; ich bin nicht schuld. Wenn ich Geld hätte
    ...«
    »Um Gottes willen, laß mich in Ruhe!« schrie Michailow; es war seiner Stimme anzuhören, daß ihm die Tränen ganz
    nahe waren. Sich die Ohren zuhaltend, lief er in sein Arbeitszimmer, das vom Wohnzimmer nur durch eine dünne
    Zwischenwand getrennt war, und machte die Tür hinter sich zu. »So ein einfältiges Frauenzimmer!« murmelte er vor
    sich hin, setzte sich an den Tisch, schlug eine Mappe auf und begann sofort mit ganz besonderem Eifer an einer
    angefangenen Zeichnung weiterzuarbeiten.
    Niemals arbeitete er mit größerem Eifer und Erfolg, als wenn es ihm in materieller Hinsicht schlecht ging und
    namentlich, wenn er sich mit seiner Frau gezankt hatte: ›Ach, man möchte am liebsten davonlaufen!‹ dachte er,
    während er weiterarbeitete. Er zeichnete eine Skizze für die Gestalt eines Mannes, der einen Wutanfall hat. Eine
    solche Skizze hatte er schon früher hergestellt gehabt, war aber mit ihr nicht zufrieden gewesen. ›Nein, die erste
    war doch besser ... Wo mag sie nur geblieben sein?‹ Er ging wieder in das Zimmer, in dem seine Frau war, und
    fragte, ohne sie anzusehen, mit finsterem Gesicht sein ältestes Töchterchen, wo das Blatt Papier sei, das er ihnen
    gegeben habe. Das Blatt mit der verworfenen Skizze fand sich wirklich noch vor, war aber beschmutzt und mit Stearin
    betröpfelt. Trotzdem nahm er die Skizze mit in sein Arbeitszimmer, legte sie vor sich auf den Tisch und betrachtete
    sie, indem er sich etwas davon entfernte und die Augen zusammenkniff. Auf einmal lächelte er und schwenkte vergnügt
    die Arme.
    ›So muß es sein, so ist es richtig!‹ sprach er vor sich hin, ergriff sofort einen Bleistift und begann hastig zu
    zeichnen. Der Stearinfleck hatte dem Mann eine neue Pose gegeben.
    Er zeichnete diese neue Pose, und auf einmal fiel ihm das energische, durch das vorstehende Kinn besonders
    auffällige Gesicht des Händlers ein, von dem er seine Zigarren kaufte, und eben dieses Gesicht und Kinn gab er nun
    seinem Manne auf der Zeichnung. Er lachte vor Freude laut auf. Der Kopf war plötzlich von einem toten, gekünstelten
    zu einem lebendigen geworden, der so gut gelungen war, daß nichts mehr daran geändert zu werden brauchte. Dieser
    Kopf hatte Leben und war in klarer, zweifelloser Weise charakterisiert. Man konnte ja die übrige Figur noch den
    Anforderungen dieses Kopfes entsprechend verbessern; man konnte und mußte sogar die Beine anders auseinanderrücken,
    die Haltung des linken Armes völlig verändern, das Haar nach hinten zurückwerfen. Aber wenn er diese Verbesserungen
    vornahm, so änderte er dadurch die Gestalt nicht, sondern er beseitigte nur das, wodurch sie verborgen wurde. Er
    nahm gleichsam Hüllen von ihr herunter, die ihre volle Sichtbarkeit beeinträchtigt hatten. Jeder

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