Anna Karenina
Richtung im Interesse der Kunst nicht wählen dürften, und dann
...«
»Ist denn das wahr, daß dieser Michailow in solcher Armut lebt?« fragte Wronski, der sich sagte, daß er als
russischer Mäzen den Künstler unterstützen müsse, ob nun das Bild gut oder schlecht sei.
»Ich kann es mir kaum denken. Er ist ein vorzüglicher Bildnismaler. Haben Sie sein Bildnis der Frau
Wasiltschikowa gesehen? Aber er mag, wie es scheint, keine Bildnisse mehr malen, und daher könnte es schon möglich
sein, daß er sich wirklich in Not befindet. Ich wollte also sagen ...«
»Könnte man ihn nicht bitten, Anna Arkadjewnas Bildnis zu malen?« fragte Wronski.
»Warum denn gerade mein Bildnis?« fragte Anna. »Nach dem, das du malst, mag ich kein anderes Bildnis mehr haben.
Laß ihn doch lieber Anny malen« (so nannte sie ihr Töchterchen). »Da ist sie gerade«, fügte sie hinzu, als sie bei
einem Blick durch das Fenster die schöne italienische Amme gewahr wurde, die das Kind in den Garten trug, und
blickte sofort verstohlen auf Wronski. Diese schöne Amme, deren Kopf Wronski für ein Bild benutzte, an dem er
malte, war der einzige geheime Kummer in Annas Dasein. Wronski betrachtete, während er sie malte, voll Bewunderung
ihre Schönheit und ihre mittelalterliche Erscheinung, und Anna mochte sich nicht eingestehen, daß sie nahe daran
war, auf diese Amme eifersüchtig zu werden; sie behandelte sie daher mit besonderer Freundlichkeit und verwöhnte
sowohl sie wie deren Söhnchen.
Wronski warf gleichfalls einen Blick durch das Fenster und sah dann Anna in die Augen; sofort aber wandte er
sich wieder zu Golenischtschew und sagte:
»Kennst du diesen Michailow?«
»Ich bin einige Male mit ihm zusammengetroffen. Aber er ist ein wunderlicher Kauz und ohne alle Erziehung. Weißt
du, einer von diesen kulturlosen modernen Menschen, wie man ihnen jetzt häufig begegnet; weißt du, einer von jenen
Freidenkern, die von klein auf in den Begriffen des Unglaubens, der Verneinung und des Materialismus erzogen sind.
Die Freidenker der früheren Zeit«, redete Golenischtschew weiter, ohne zu bemerken oder ohne bemerken zu wollen,
daß sowohl Anna wie auch Wronski etwas zu sagen wünschten, »das waren Leute, die in den Begriffen der Religion, des
Gesetzes der Moral aufgewachsen und erst durch eigenes Ringen und eigene Arbeit zur Freidenkerei gelangt waren;
heute aber erscheint ein neuer Typ von Freidenkern, solche, die es gleich von Geburt an sind, die aufwachsen, ohne
auch nur jemals etwas davon gehört zu haben, daß es Gesetze der Moral und Religion und so etwas wie Autorität
gegeben hat, sondern ohne weiteres in der Idee von der Verneinung aller Ordnung heranwachsen, das heißt wie Wilde.
Von der Sorte ist er. Ich glaube er ist der Sohn eines Moskauer Oberkellners und hat gar keine Erziehung genossen.
Als er auf die Akademie gekommen war und sich schon einigen Ruf erworben hatte, wollte er, wie er denn kein dummer
Mensch ist, sich auch eine gewisse Bildung aneignen. Und so wandte er sich denn zu dem, was er für den Quell der
Bildung hielt, zu den Zeitschriften. Bitte zu beachten, in älterer Zeit hätte jemand, der etwas für seine Bildung
tun wollte, sagen wir einmal ein Franzose, sich an das Studium der hervorragenden Schriftsteller gemacht: der
Theologen, der Tragiker, der Historiker, der Philosophen, und, bitte zu beachten, er hätte dabei ein tüchtiges Maß
geistiger Arbeit zu leisten gehabt. Aber jetzt bei uns in Rußland stürzte er sich ohne weiteres in die alles
verneinende Literatur hinein, machte sich mit großer Leichtigkeit den Gesamtextrakt der alles verneinenden
Wissenschaft zu eigen und war nun fertig. Und damit nicht genug: vor zwanzig Jahren hätte er in dieser Literatur
die Anzeichen eines Kampfes mit den Autoritäten, mit den jahrhundertealten Anschauungen gefunden; er hätte aus
diesem Kampfe ersehen, daß vorher etwas anderes vorhanden war, jetzt aber geriet er geradeswegs in eine Literatur
hinein, in der die alten Anschauungen nicht einmal der Bekämpfung gewürdigt werden, sondern einfach erklärt wird:
keine Voraussetzungen gelten; Evolution, Auslese, Kampf ums Dasein, damit fertig! Ich habe in meiner Abhandlung
...«
»Wissen Sie was?« sagte Anna, die schon lange verstohlen mit Wronski Blicke gewechselt hatte und wußte, daß er
sich für den Bildungsgang dieses Künstlers gar nicht interessierte, sondern daß ihn nur der Gedanke beschäftigte,
ihm zu helfen und ein
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