Anna Karenina
gewaltig große Abteilung der Gesichter gelegt hatte, die eine gewisse Bedeutung
vortäuschen, in Wahrheit aber ausdrucksleer sind. Das lange Haar und die sehr offene Stirn verliehen äußerlich
diesem Gesicht etwas Bedeutsames, und doch lag in ihm eigentlich weiter nichts als ein kleinlicher, kindhafter,
unruhiger Ausdruck, der sich über dem schmalen Nasensattel verdichtete. Wronski und Frau Karenina mußten nach
Michailows Schlußfolgerungen vornehme, reiche Russen sein, die, wie alle diese reichen Russen, von Kunst nichts
verstanden, sich aber als Liebhaber und Kritiker aufspielten. ›Sicherlich haben sie sich schon alle alten Bilder
angesehen und fahren jetzt bei den Ateliers der neuzeitlichen Maler umher, bei den großmäuligen Deutschen und den
verrückten präraffaelitischen Engländern, und zu mir sind sie nur um der Vollständigkeit der Besichtigung willen
gekommen‹, dachte er. Er kannte sehr genau jene Art der Kunstliebhaber (je klüger sie waren, um so schlimmer), die
Ateliers zeitgenössischer Künstler nur deshalb zu besichtigen, um ein Recht zu haben zu der Behauptung, die Kunst
sei heruntergekommen, und je mehr man die Leistungen der modernen Maler betrachte, um so mehr komme man zu der
Erkenntnis, daß doch die alten großen Meister schlechterdings unerreicht geblieben seien. Auf alles dies war er
auch bei diesen beiden Besuchern gefaßt; alles dies las er auf ihren Gesichtern, ersah es aus der geringschätzigen
Gleichgültigkeit, mit der sie untereinander sprachen und die Gliederpuppen und Büsten beschauten und zwanglos
umhergingen, während sie darauf warteten, daß er das Gemälde enthülle. Trotzdem empfand er, während er seine
Studien umdrehte, die Vorhänge aufzog und das Laken abnahm, eine starke Erregung, um so mehr, da, obgleich nach
seiner Vorstellung alle vornehmen, reichen Russen Esel und Dummköpfe sein mußten, doch Wronski und namentlich Anna
ihm gefielen.
»Hier, ist es gefällig?« sagte er, indem er mit seinem gezierten Gang zur Seite trat und auf das Gemälde wies.
»Es ist das Verhör durch Pilatus. Matthäus, Kapitel siebenundzwanzig«, bemerkte er erläuternd und fühlte, daß ihm
die Lippen vor Aufregung zu zittern begannen. Er trat beiseite und stellte sich hinter die Beschauer.
Die kurze Zeit über, während die Besucher das Gemälde schweigend betrachteten, sah auch Michailow es an, und
zwar mit gleichmütigem Blick, als ob er ein Fremder wäre. Während dieser wenigen Augenblicke war er im voraus des
Glaubens, daß sie das maßgebendste, gerechteste Urteil abgeben würden, gerade sie, diese Besucher, die er noch eine
Minute vorher so sehr verachtet hatte. Vergessen hatte er alles, was er früher über sein Bild gedacht hatte, die
drei Jahre über, in denen er daran gemalt hatte, vergessen all seine Vorzüge, die ihm als ganz zweifellos
erschienen waren: er betrachtete das Bild jetzt mit ebenso gleichgültigen, fremden Blicken wie seine Besucher und
fand an ihm nichts Gutes mehr. Er sah im Vordergrund das ärgerliche Gesicht des Pilatus und das ruhige Antlitz
Christi und im Hintergrund die Gestalten der Untergebenen des Pilatus und das Gesicht des Johannes, der aufmerksam
verfolgte, was da vorging. Jede einzelne Gestalt, die nach so langem Suchen, nach so vielen Irrtümern und
Verbesserungen sich mit ihrer besonderen Charakterisierung in seinem Geiste herausgebildet hatte, jede einzelne
Gestalt, die ihm soviel Pein und soviel Freude bereitet hatte, und alle diese Gestalten zusammen, die er so oft um
des Gesamteindrucks willen ihren Platz hatte wechseln lassen, alle mit so vieler Mühe erzielten Schattierungen der
Farben und der Töne: alles dies zusammen erschien ihm jetzt, wo er es mit den Augen seiner Besucher sah, als eine
schon tausendmal wiederholte Alltäglichkeit. Die Figur, die ihm die liebste und teuerste war, die Christusfigur,
der Mittelpunkt des Gemäldes, über die er, als sie sich ihm einst offenbart hatte, in höchste Begeisterung geraten
war, sie hatte für ihn allen Reiz verloren, nun er das Gemälde mit den Augen Fremder beschaute. Er sah eine gut
gemalte (eigentlich nicht einmal gut gemalte, da er jetzt deutlich eine ganze Menge von Mängeln wahrnahm)
Wiederholung jener zahllosen Christusse von Tizian, Raffael und Rubens, eine Wiederholung der nämlichen
Kriegsknechte und des nämlichen Pilatus. All das war so alltäglich, armselig und veraltet, und es war sogar
schlecht gemalt: bunt und schwächlich. ›Diese
Weitere Kostenlose Bücher