Anna Karenina
neue
Bleistiftstrich ließ die ganze Gestalt nur noch mehr in ihrer vollen, energischen Kraft hervortreten, so, wie sie
ihm plötzlich durch den Stearinfleck erschienen war. Er war eben dabei, die Zeichnung vorsichtig zu beenden, als
ihm die Besuchskarten überbracht wurden. »Ich komme sofort!«
Er ging ins andere Zimmer zu seiner Frau.
»Nun, laß es gut sein, Sascha, sei nicht mehr böse!« sagte er zu ihr mit einem schüchternen, zärtlichen Lächeln.
»Du hattest schuld, ich hatte schuld. Ich werde alles in Ordnung bringen.« Und nachdem er sich so mit seiner Frau
versöhnt hatte, zog er seinen olivenfarbenen Überzieher mit dem Samtkragen an, setzte den Hut auf und ging nach
seinem Atelier. Daß ihm die Zeichnung so gut gelungen war, hatte er schon wieder vergessen. Jetzt freute und
erregte ihn nur der Besuch seines Ateliers durch diese vornehmen Russen, die in einem Wagen angefahren gekommen
waren.
Über sein großes Gemälde, das auf seiner Staffelei stand, hatte er in der Tiefe seiner Seele sein bestimmtes
Urteil fertig: daß ein solches Bild noch nie jemand gemalt habe. Er glaubte gerade nicht, daß sein Bild besser sei
als alle Raffaelschen; aber er war überzeugt, daß das, was er in seinem Bilde hatte zum Ausdruck bringen wollen,
noch nie von einem andern ausgedrückt worden war. Das war seine feste Überzeugung, und diese Überzeugung hatte er
schon längst gehabt, schon seit der Zeit, wo er sein Bild angefangen hatte zu malen; aber die Urteile der Leute,
von welcher Art auch immer diese Leute waren, hatten für ihn trotzdem eine gewaltige Wichtigkeit und erregten ihn
bis auf den tiefsten Grund seiner Seele. Jede Bemerkung, selbst die unbedeutendste, die zeigte, daß die Beurteiler
auch nur einen kleinen Teil von dem sahen, was er selbst in diesem Bilde sah, machte auf ihn den allerstärksten
Eindruck. Er schrieb seinen Beurteilern immer ein weit tieferes Verständnis zu, als er es selbst besaß, und
erwartete stets von ihnen etwas zu erfahren, was er selbst an seinem Bilde noch nicht gesehen hatte. Und oft meinte
er wirklich in den Kritiken der Beschauer derartiges zu finden.
Mit schnellen Schritten näherte er sich dem Hause, in dem sich sein Atelier befand, und war trotz seiner
Aufregung überrascht von der weichen Beleuchtung der Gestalt Annas, die im Schatten an der Haustür stand, auf
Golenischtschew hinhörte, der ihr eifrig etwas auseinandersetzte, und gleichzeitig offenbar wünschte, sich den
herankommenden Maler anzusehen. Er wurde sich selbst dessen gar nicht bewußt, daß er bei der Annäherung an die
Besucher diesen Eindruck erfaßte und gleichsam verschluckt hatte, ebenso wie den vom Kinn des Zigarrenhändlers, und
ihn da irgendwo verborgen hatte, um ihn, sobald es nötig sein würde, wieder hervorzuholen. Die Besucher, die schon
im voraus durch Golenischtschews Mitteilungen über den Maler enttäuscht worden waren, sahen sich durch sein Äußeres
noch mehr enttäuscht. Von mittlerer Größe, stämmig, mit seinem gezierten Gang, in seinem braunen Hut, dem
olivenfarbenen Überzieher und den engen Beinkleidern, während schon längst weite getragen wurden, namentlich aber
durch sein sehr gewöhnliches, breites Gesicht, auf dem sich der Ausdruck von Schüchternheit mit dem gespreizter
Würde verband, brachte bei Michailow einen unangenehmen Eindruck hervor.
»Bitte ergebenst«, sagte er, indem er sich bemühte, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, trat in den Hausflur,
holte einen Schlüssel aus der Tasche und schloß die Tür auf.
11
Beim Eintritt in das Atelier richtete Michailow noch einmal seinen Blick auf seine Gäste und notierte sich in
seinem Gedächtnis noch den Ausdruck des Wronskischen Gesichtes, besonders den der Backenknochen. Obgleich sein
Künstlersinn unablässig weiterarbeitete und neues Material sammelte und obgleich seine Aufregung sich immer mehr
steigerte, je näher der Augenblick der Kritik über seine Arbeit heranrückte, bildete er sich dennoch aus kaum
wahrnehmbaren Merkmalen schnell und scharfsinnig ein Urteil über diese drei Persönlichkeiten. Jener da,
Golenischtschew, war ein hier ansässiger Russe. Michailow erinnerte sich nicht, wie der Mann hieß, auch nicht, wo
er ihn schon getroffen und worüber er mit ihm gesprochen hatte. Er erinnerte sich nur seines Gesichtes, wie er sich
aller Gesichter erinnerte, die er jemals gesehen hatte; aber er erinnerte sich auch, daß er dieses Gesicht in
seinem Gedächtnis in die
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