Anna Karenina
einige Zeit
geschwankt hatte, für welche Gattung der Malerei er sich entscheiden solle, für die religiöse, die historische, das
Genre oder die realistische, machte er sich daran zu malen. Er hatte für alle diese Gattungen Verständnis und war
imstande, sich sowohl für die eine wie auch für eine andere zu begeistern; er konnte sich aber nicht vorstellen,
daß es möglich sein sollte, gar nicht zu wissen, welche Richtungen es in der Malerei gibt, und sich unmittelbar für
das zu begeistern, was einem in der Seele lebt, ohne sich darum zu kümmern, ob das, was man malen wolle, zu
irgendeiner bestimmten Richtung gehören werde. Da er dies nicht verstand und sich nicht unmittelbar durch das Leben
begeistern ließ, sondern mittelbar durch das von der Kunst bereits verkörperte Leben, so begeisterte er sich sehr
rasch und leicht und erreichte es ebenso rasch und leicht, daß das, was er malte, derjenigen Richtung sehr ähnlich
wurde, die er nachahmen wollte.
Mehr als alle anderen Richtungen gefiel ihm die anmutige und wirkungsvolle französische Richtung, und so begann
er denn im Stil dieser Richtung Annas Porträt in italienischem Kostüm zu malen, und mit ihm waren alle, die dieses
Porträt sahen, der Ansicht, daß es sehr gut gelinge.
9
Der alte, verwahrloste Palazzo mit den hohen, stuckverzierten Zimmerdecken und den Fresken an den Wänden, mit
den Mosaikfußböden, mit den schweren, gelben Stoffgardinen an den hohen Fenstern, mit den Vasen auf Konsolen und
Kaminen, mit den geschnitzten Türen und den düsteren Sälen, die mit Gemälden vollgehängt waren – dieser Palazzo
nährte, nachdem sie nun nach ihm übergesiedelt waren, bei Wronski die angenehme Täuschung, daß er nicht so sehr ein
russischer Gutsbesitzer und Hofstallmeister z.D., vielmehr ein hochgebildeter Liebhaber und Beschützer der Künste
sei und zugleich selbst ein bescheidener Künstler, der um eines geliebten Weibes willen auf seine Stellung in der
Welt, auf alle seine guten Verbindungen und auf allen Ehrgeiz verzichtet habe.
Diese Rolle, die sich Wronski bei der Übersiedlung nach dem Palazzo zurechtgemacht hatte, gelang ihm vollkommen,
und nachdem er durch Golenischtschews Vermittlung auch noch einige interessante Persönlichkeiten kennengelernt
hatte, war ihm in der ersten Zeit ruhig und wohl zumute. Er malte unter der Anleitung eines italienischen
Professors der Malerei Studien nach der Natur und beschäftigte sich mit dem italienischen Leben im Mittelalter.
Dieses mittelalterliche italienische Leben gewann zuletzt für Wronski einen solchen Reiz, daß er sich sogar einen
Hut nach damaliger Art anschaffte und einen Überwurf nach damaliger Sitte über der Schulter trug, was ihm sehr gut
stand.
»Da leben wir nun hier und wissen von nichts«, sagte Wronski einmal zu Golenischtschew, der am Vormittag zu ihm
kam. »Hast du Michailows Bild gesehen?« fragte er ihn, indem er ihm eine soeben am Morgen eingetroffene russische
Zeitung reichte und auf einen Aufsatz über einen russischen Maler zeigte, der in der gleichen Stadt lebte und ein
Gemälde fast vollendet hatte, das schon lange allerlei umlaufende Gerüchte veranlaßt und schon im voraus einen
Käufer gefunden hatte. Dieser Aufsatz enthielt Vorwürfe gegen die Regierung und gegen die Akademie, weil sie einen
so hervorragenden Künstler ohne jede Aufmunterung und Unterstützung gelassen hätten.
»Ja, ich habe es gesehen«, antwortete Golenischtschew. »Versteht sich, es mangelt ihm nicht an Talent; aber
seine Richtung ist völlig verkehrt. Immer die Iwanow-Strauß-Renansche Stellungnahme zur Christusgestalt und zur
religiösen Malerei.«
»Was stellt denn das Bild dar?« fragte Anna.
»Christus vor Pilatus. Christus ist als Jude dargestellt, mit dem ganzen Realismus der neuen Schule.«
Und nun begann Golenischtschew, der durch die Frage nach dem Gegenstand des Gemäldes auf eines seiner
Lieblingsgebiete gebracht war, seine Ansicht darzulegen.
»Ich begreife gar nicht, wie die Leute einen so groben Mißgriff begehen können. Christus hat doch bereits seine
ein für allemal feststehende Verkörperung in den Kunstwerken der großen alten Meister gefunden. Folglich, wenn
diese Leute nicht einen Gott, sondern einen Revolutionär oder einen Weisen darstellen wollen, so mögen sie sich
doch aus der Geschichte Sokrates oder Franklin oder Charlotte Corday auswählen, aber nur nicht Christus. Sie wählen
gerade die Persönlichkeit, die sie bei ihrer
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