Anna Karenina
und wie diese Gestalt ausgeführt ist, wieviel Luft zwischen ihr und den anderen Figuren ist! Als könnte man
um sie herumgehen«, sagte Golenischtschew, der durch diese Bemerkung offenbar zeigen wollte, daß er mit dem
geistigen Gehalt und der Idee dieser Figur nicht sonderlich zufrieden sei.
»Ja, eine erstaunliche Meisterschaft!« bemerkte Wronski. »Wie sich diese Gestalten vom Hintergrunde abheben! Das
nennt man Technik!« fügte er, zu Golenischtschew gewendet, hinzu und spielte damit auf ein früheres Gespräch
zwischen ihnen beiden an, bei dem Wronski geäußert hatte, er verzweifle daran, sich eine gute Technik zu eigen zu
machen.
»Ja gewiß, erstaunlich!« stimmten Golenischtschew und Anna bei.
Trotz der gehobenen Stimmung, in der sich Michailow befand, ließ diese Bemerkung über die Technik sein Herz
schmerzlich zusammenzucken; ärgerlich blickte er Wronski an und machte plötzlich ein sehr finsteres Gesicht. Er
hatte dieses Wort Technik oft gehört und schlechterdings nicht verstanden, was die Leute eigentlich damit sagen
wollten. Er wußte, daß sie unter diesem Wort eine mechanische Fähigkeit zu malen und zu zeichnen verstanden, die
von dem Gegenstand des Bildes ganz unabhängig ist. Oft hatte er, wie auch bei dem jetzigen Lob, gemerkt, daß die
Leute die Technik dem inneren Wert gegenüberstellten, als ob es möglich wäre, etwas an sich Schlechtes gut zu
malen. Er wußte, daß viel Aufmerksamkeit und Vorsicht vonnöten war, um, wenn man von dem vorschwebenden Idealbilde
die Hüllen abnahm, das Kunstwerk selbst nicht zu beschädigen, und um auch wirklich alle Hüllen herunterzubekommen;
aber das war eben die Kunst des Malens – von Technik war dabei gar nicht die Rede. Wenn das, was er mit dem
geistigen Auge sah, sich ebenso einem kleinen Kinde oder seiner Köchin offenbarte, so würden auch sie verstehen,
was sie gesehen hatten, herauszuschälen. Aber anderseits würde der erfahrenste, geschickteste Techniker der Malerei
durch die bloße mechanische Fähigkeit nicht imstande sein, etwas zu malen, wenn sich ihm nicht vorher der Inhalt in
klarer Umgrenzung geoffenbart hätte. Außerdem war Michailow sich bewußt, daß, wenn man nun einmal von Technik reden
wolle, man gerade ihn in dieser Hinsicht nicht loben könne. In allem, was er malte und gemalt hatte, erkannte er
Mängel, die ihm in den Augen weh taten, Mängel, die von der Unachtsamkeit herrührten, mit der er die Hüllen
abgenommen hatte, und die er jetzt nicht mehr verbessern konnte, ohne das ganze Kunstwerk zu verderben. Und auch
bei diesem Bilde sah er an fast allen Gestalten und Gesichtern Reste nicht vollständig abgenommener Hüllen, die den
Wert des Bildes minderten.
»In einem Punkte könnte man anderer Ansicht sein, wenn Sie mir eine solche Bemerkung gestatten wollen ...«,
begann Golenischtschew.
»Aber es freut mich sehr, und ich bitte Sie herzlich«, erwiderte Michailow, gezwungen lächelnd.
»Ich meine: daß Christus bei Ihnen ein Menschgott ist, und nicht ein Gottmensch. Übrigens weiß ich recht wohl,
daß Sie das gerade beabsichtigt haben.«
»Ich kann keinen Christus malen, der nicht in meiner Seele vorhanden ist«, versetzte Michailow mit finsterem
Gesichte.
»Ja, aber in diesem Falle ... wenn Sie mir gestatten, meinen Gedanken auszusprechen ... Ihr Bild ist ja so
vortrefflich, daß meine Bemerkung ihm keinen Abbruch tun kann, und dann ist das ja auch nur meine persönliche
Meinung. Bei Ihnen ist der ganze Vorgang ein anderer geworden; das Motiv selbst ist ein anderes. Aber nehmen wir
meinetwegen Iwanow als Beispiel. Ich meine, statt Christus auf die Stufe einer bloßen historischen Persönlichkeit
zu stellen, hätte Iwanow besser getan, sich ein anderes historisches Thema, ein frisches, unangerührtes,
auszusuchen.«
»Aber wenn dies doch das erhabenste Thema ist, das sich der Kunst darbietet?«
»Wenn man nur suchen will, finden sich schon noch andere. Aber die Sache ist die, daß ein Kunstwerk keinen
Streit und keine Auseinandersetzungen vertragen kann. Und bei Iwanows Bild entsteht für den Gläubigen und für den
Ungläubigen die Frage: ist das ein Gott oder kein Gott? Und dieser Zweifel zerstört die Einheitlichkeit der
Wirkung.«
»Wieso?« erwiderte Michailow. »Mir scheint, daß für gebildete Leute darüber kein Streit mehr möglich ist.«
Golenischtschew stimmte diesem Satze nicht zu, und indem er an dem vorher von ihm ausgesprochenen Gedanken von
der für ein
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