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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Kunstwerk erforderlichen Einheitlichkeit der Wirkung festhielt, schlug er Michailow aus dem Felde.
    Michailow geriet zwar in große Erregung, wußte aber zur Verteidigung seiner Anschauung nichts vorzubringen.

12
    Anna und Wronski, die die kluge Gesprächigkeit ihres Freundes bedauerten, hatten schon lange miteinander Blicke
    gewechselt; endlich ging Wronski, ohne eine Aufforderung des Hausherrn abzuwarten, zu einem andern, kleinen Bilde
    hinüber.
    »Ach, wie reizend, wie reizend! Wunderhübsch! Wie reizend!« riefen sie beide wie aus einem Munde.
    ›Was hat ihnen denn da so gefallen?‹ dachte Michailow. Er hatte dieses Bild, das er vor drei Jahren gemalt
    hatte, ganz vergessen. Vergessen hatte er all die Leiden und Freuden, die er mit diesem Bilde durchgekostet hatte,
    als es einige Monate lang ihn Tag und Nacht ausschließlich und unaufhörlich beschäftigt hatte, vergessen, wie er
    stets seine Bilder vergaß, wenn sie fertig waren. Er mochte es nicht einmal mehr ansehen und hatte es nur
    ausgestellt, weil er auf einen Engländer wartete, der Lust bekäme, es zu kaufen.
    »Das ist weiter nichts Besonderes, eine ältere Studie«, sagte er.
    »Wie schön!« rief, offenbar aufrichtig, Golenischtschew, der sich gleichfalls dem Reiz dieses Bildes nicht
    entziehen konnte.
    Zwei Knaben angelten im Schatten einer Weide. Der eine, ältere, hatte gerade die Angel ausgeworfen und führte
    den Schwimmer behutsam aus dem Gebüsch heraus, eine Beschäftigung, die alle seine Gedanken in Anspruch nahm; der
    andere, jüngere, lag im Grase, stützte sich auf die Ellbogen, hielt den Kopf mit dem wirren, blonden Haar in beiden
    Händen und blickte mit den träumerischen blauen Augen auf das Wasser. Woran mochte er denken?
    Das Entzücken der Besucher über dieses Bild ließ in Michailows Seele die ehemalige Erregung wieder aufleben;
    aber er hatte eine Art von Furcht und Widerwillen gegen solche zwecklosen Gefühle, die sich auf Vergangenes
    bezogen, und suchte daher, so angenehm ihm auch diese Lobeserhebungen waren, seine Besucher davon abzulenken und zu
    einem dritten Bilde zu führen.
    Aber Wronski fragte ihn, ob das Bild nicht verkäuflich sei. Für Michailow, der durch die Gespräche mit seinen
    Besuchern erregt war, hatte es jetzt etwas sehr Peinliches, über ein Geldgeschäft zu reden.
    »Es ist zum Verkauf ausgestellt«, erwiderte er mit mürrischer, verdrossener Miene.
    Sobald die Besucher sich entfernt hatten, setzte Michailow sich vor sein Bild »Pilatus und Christus« hin und
    wiederholte in seinem Geiste, was diese Besucher gesagt und, ohne es auszusprechen, mit hinzugedacht hatten. Und
    merkwürdig: das, was ihm so gewichtig erschienen war, solange sie anwesend waren und er sich in Gedanken auf ihren
    Standpunkt versetzte, das hatte jetzt auf einmal für ihn alle Bedeutung verloren. Er prüfte nun sein Gemälde mit
    seiner ganzen, vollen künstlerischen Urteilskraft und gelangte zu jener Überzeugung von der Vollkommenheit und
    somit auch Bedeutsamkeit seines Bildes, deren er für die alle anderen Gedanken ausschließende geistige Spannung
    bedurfte, die bei ihm eine unerläßliche Voraussetzung erfolgreichen Arbeitens war.
    Der eine Fuß Christi, der in Verkürzung gezeichnet war, wollte ihm immer noch nicht richtig erscheinen. Er griff
    zur Palette und machte sich an die Arbeit. Während er den Fuß verbesserte, betrachtete er unaufhörlich die Figur
    des Johannes im Hintergrunde, die die Besucher gar nicht beachtet hatten und die doch nach seiner Überzeugung den
    Gipfel der Vollkommenheit darstellte. Nachdem er mit dem Fuße fertig war, wollte er auch diese Figur noch
    vornehmen; aber er fühlte sich doch zu aufgeregt dazu. Er war gleichermaßen unfähig zu arbeiten, wenn er sich in
    kühler Stimmung befand und wenn er gar zu weich war und alles, was er sah, ihn zu sehr ergriff. Auf dieser
    Stufenleiter zwischen Kälte und Ekstase gab es nur eine einzige Stufe, auf der ihm das Arbeiten möglich war.
    Augenblicklich aber war er zu aufgeregt. Er wollte das Bild wieder verhüllen, hielt aber inne und betrachtete, das
    Laken in der Hand haltend, mit glückseligem Lächeln lange die Figur des Johannes. Endlich riß er sich, wie mit
    einem Gefühl der Trauer, von ihr los, ließ das Laken darüberfallen und ging müde, aber glücklich nach seiner
    Wohnung.
    Wronski, Anna und Golenischtschew waren auf dem Heimweg besonders lebhaft und heiter. Sie sprachen von Michailow
    und seinen Bildern. Das Wort Talent, unter dem sie

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