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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Betrachtungsweise auseinanderzusetzen.
    Worin die Besonderheit von Metrows Auffassung bestand, das begriff Ljewin nicht, weil er sich keine Mühe gab, es
    zu begreifen. Er sah, daß Metrow, ganz wie die andern, trotz seiner Abhandlung, in der er die Volkswirtschaftler
    bekämpft hatte, die Lage des russischen Arbeiters dennoch nur vom Gesichtspunkte des Kapitals, des Arbeitslohnes
    und der Rente betrachtete. Obgleich er zugeben mußte, daß im östlichen, größten Teile Rußlands die Rente noch
    gleich Null sei, daß der Arbeitslohn für neun Zehntel der sich auf achtzig Millionen belaufenden Bevölkerung
    Rußlands nur im eigenen Lebensunterhalt bestehe und daß ein Kapital bisher nur in Gestalt der einfachsten
    Arbeitsgeräte vorhanden sei, so betrachtete er dennoch jeden Arbeiter nur von diesem Gesichtspunkte aus. In vielen
    Punkten allerdings stimmte er mit den Volkswirtschaftlern nicht überein, und über den Arbeitslohn hatte er eine
    eigene Auffassung, die er nun Ljewin auseinandersetzte.
    Ljewin hörte ihm nur ungern zu und versuchte anfangs einige Einwendungen vorzubringen. Er hätte gern Metrow
    unterbrochen, um ihm seine Gedanken zu entwickeln, durch die seiner Ansicht nach jede weitere Auseinandersetzung
    überflüssig gemacht wurde. Als er sich dann aber überzeugt hatte, daß sie beide für die Sache eine so verschiedene
    Anschauungsweise hatten, daß sie einander doch nie würden verstehen können, da widersprach er nicht mehr und hörte
    nur noch zu. Und obwohl das, was Metrow sagte, ihn nun gar nicht mehr beschäftigte, empfand er doch beim Zuhören
    eine gewisse Befriedigung. Seine Eitelkeit fühlte sich dadurch geschmeichelt, daß ein solcher Gelehrter so
    bereitwillig, mit solcher Sorgfalt und mit solchem Vertrauen auf seine, Ljewins, Sachkenntnis (mitunter wies er
    durch eine bloße Andeutung auf ein ganzes großes Gebiet dieses Gegenstandes hin) ihm seine Gedanken
    auseinandersetzte. Ljewin führte dies darauf zurück, daß Metrow ihn als eine wertvolle Persönlichkeit betrachte; er
    wußte eben nicht, daß er schon mit allen ihm Näherstehenden diesen Gegenstand zur Genüge besprochen hatte und nun
    jedesmal einen besonderen Genuß darin fand, wenn er mit einer neuen Persönlichkeit darüber reden konnte, und daß er
    überhaupt gern mit allen Leuten redete, auch über solche ihn beschäftigende Gegenstände, die ihm selbst unklar
    waren.
    »Aber wir werden zu spät kommen«, sagte Katawasow nach einem Blick auf die Uhr, sobald Metrow seine
    Auseinandersetzung beendet hatte.
    »Es findet heute in der Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft eine Festsitzung aus Anlaß von Swintitschs
    fünfzigjährigem Jubiläum statt«, erwiderte Katawasow auf eine Frage Ljewins. »Peter Iwanowitsch und ich wollen auch
    hin. Ich habe versprochen, über Swintitschs zoologische Arbeiten zu sprechen. Kommen Sie mit; es wird sehr
    interessant sein.«
    »Ja, es ist wirklich Zeit«, sagte Metrow. »Kommen Sie doch mit und von dort zu mir, wenn es Ihnen recht ist. Ich
    würde sehr gern Ihre Arbeit ganz kennenlernen.«
    »Ach, nicht doch. Sie ist noch recht unschön; ich bin ja noch gar nicht fertig. Aber in die Sitzung werde ich
    sehr gern mitkommen.«
    »Haben Sie schon gehört, Verehrtester? Ich habe ein Sondergutachten eingereicht«, sagte Katawasow, während er
    sich im Nebenzimmer den Frack anzog, zu Metrow.
    Damit begann ein Gespräch über die Universitätsfrage.
    Die Universitätsfrage war in diesem Winter in Moskau ein sehr wichtiges Ereignis. Drei ältere Professoren hatten
    im Senat ein Gutachten einiger jüngerer Professoren zurückgewiesen; die jüngeren hatten darauf ein gesondertes
    Gutachten eingereicht. Dieses Gutachten war nach dem Urteile der einen ganz abscheulich, nach dem Urteile anderer
    durchaus schlicht und gerecht; so hatten sich die Professoren in zwei Parteien gespalten.
    Die einen, zu denen Katawasow gehörte, sahen bei der Gegenpartei nur gemeine Verleumdung und Betrug, die anderen
    hingegen beschuldigten ihre Gegner eines Bubenstreiches und der Mißachtung aller Autorität. Obwohl Ljewin mit der
    Universität in keiner Beziehung stand, hatte er doch schon mehrmals während seiner Anwesenheit in Moskau von dieser
    Sache gehört und darüber gesprochen und hatte sich eine eigene Meinung gebildet; so beteiligte er sich denn an dem
    Gespräch, das auch noch auf der Straße fortgesetzt wurde, bis alle drei beim alten Universitätsgebäude
    anlangten.
    Die Sitzung hatte bereits begonnen. An

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