Anna Karenina
zurückschicken, und dann würde Ljewin mit Natalja fahren.
»Ljewin macht mich ganz irre«, sagte Lwow zu seiner Frau. »Er versichert mir, unsere Kinder seien Ausbünde von
Vortrefflichkeit, und dabei weiß ich doch, daß in ihnen nicht wenig Schlechtes steckt.«
»Arseni übertreibt gern; das habe ich immer gesagt«, entgegnete seine Frau. »Wenn man nach dem Vollkommenen
strebt, dann wird man nie zufrieden sein. Es ist ganz richtig, was Papa sagt: als wir erzogen wurden, hätte man die
eine Übertreibung befolgt: die Kinder hätte man in den Zwischenstock verwiesen, und die Eltern hätten in der
Beletage gewohnt; jetzt dagegen sei es gerade umgekehrt: für die Eltern die Rumpelkammer und für die Kinder die
Beletage. Die Eltern sollen heutzutage gar nichts mehr vom Leben haben; alles ist nur für die Kinder da.«
»Warum nicht, wenn das angenehmer ist?« sagte Lwow mit seinem hübschen Lächeln und berührte leise ihre Hand.
»Wer dich nicht kennt, müßte denken, daß du keine Mutter, sondern eine Stiefmutter wärest.«
»Nein, Übertreibung ist in allen Dingen vom Übel«, erwiderte Natalja ruhig und legte dabei das Papiermesser
ihres Mannes an den ihm zukommenden Platz auf den Tisch.
»Nun, da seid ihr ja, kommt einmal her, ihr Musterkinder!« sagte Lwow zu seinen hübschen, wohlgestalteten
Knaben, die gerade ins Zimmer traten; sie machten vor Ljewin ihre Verbeugung und gingen dann zum Vater hin, den sie
augenscheinlich etwas fragen wollten.
Ljewin hätte sich gern mit ihnen ein bißchen unterhalten und auch gern gehört, was sie von ihrem Vater wollten;
aber zuerst knüpfte Natalja ein Gespräch mit ihm an, und gleich darauf trat ein Amtsgenosse Lwows, namens Machotin,
in Hofuniform ins Zimmer, um mit ihm zusammen zum Empfang des erwarteten hohen Besuches zu fahren, und nun begann
ein ununterbrochenes Gespräch über die Herzegowina, über die Fürstin Korsinskaja, über die
Stadtverordnetenversammlung und über den plötzlichen Tod der Fürstin Apraxina.
Ljewin hatte den Auftrag, den er mitbekommen hatte, ganz vergessen. Erst als er schon auf den Flur trat, fiel er
ihm ein.
»Ach ja, Kitty hat mir aufgetragen, mit Ihnen über Oblonski zu sprechen«, sagte er zu Lwow, der seine Frau und
ihn hinausbegleitet hatte und nun auf der Treppe stehengeblieben war.
»Ja, ja, maman wünscht, daß wir, die Schwäger, ihn uns einmal vornehmen«, sagte er errötend. »Indessen, welchen
Beruf habe ich eigentlich dazu?«
»Dann werde ich ihn mir vornehmen«, meinte lächelnd Frau Lwowa, die in ihrem Mantel aus weißem Hundefell auf das
Ende des Gesprächs wartete. »Nun, dann wollen wir fahren.«
5
Die Spielfolge der Morgenaufführung wies zwei sehr reizvolle Werke auf.
Das eine war eine Phantasie: »König Lear auf der Heide«, das andere ein dem Andenken Bachs geweihtes Quartett.
Beide Werke waren neu und von moderner Art, und Ljewin hätte sich gern über sie ein eigenes Urteil gebildet.
Nachdem er seine Schwägerin zu ihrem Platz geleitet hatte, stellte er sich an eine Säule und nahm sich vor,
möglichst aufmerksam und gewissenhaft zuzuhören. Darauf bedacht, jede Zerstreuung zu vermeiden und sich den
Eindruck nicht zu verderben, blickte er nicht nach den heftigen Armbewegungen des Kapellmeisters, die stets in so
unangenehmer Weise die Aufmerksamkeit von der Musik ablenken, noch auch nach den Damen, die ihre Hüte nicht
abgenommen und sich für das Konzert absichtlich die Ohren mit den Hutbändern zugebunden hatten, noch auch nach all
den Leuten, die sich entweder mit nichts oder mit den verschiedenartigsten Dingen, nur nicht mit der Musik
beschäftigten. Er bemühte sich auch, Begegnungen mit Musikkennern und mit Schwätzern zu vermeiden; er stand da, vor
sich hin auf den Boden blickend, und hörte zu.
Aber je länger er diese Phantasie über den König Lear anhörte, um so weniger fühlte er sich imstande, sich
darüber irgendein bestimmtes Urteil zu bilden. Fortwährend ließ es sich so an, als wolle sich ein musikalischer
Ausdruck für ein Gefühl gestalten; aber im nächsten Augenblicke fiel jedesmal alles wieder in Bruchstücke neuer
musikalischer Bestandteile auseinander und manchmal geradezu nur in Töne, die lediglich durch die Laune des
Komponisten nicht miteinander verbunden, sondern in höchst verzwickter Weise nur durcheinander gemischt waren. Aber
selbst diese Bruchstücke von mitunter ganz hübschen musikalischen Gedanken wirkten nicht angenehm, weil sie
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