Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Teufelszeug

Teufelszeug

Titel: Teufelszeug
Autoren: Joe Hill
Vom Netzwerk:
KAPITEL 2
    Er zog seine Khakihosen hoch - er hatte noch immer die Sachen von gestern an - und beugte sich über das Waschbecken, um die Hörner genauer zu betrachten.
    Besonders eindrucksvoll waren sie nicht, nur in etwa so lang wie sein Ringfinger, am Ansatz etwas breiter, leicht nach oben gekrümmt und spitz zulaufend. Darüber spannte sich seine eigene kränklich blasse Haut, die nur an den Enden hässlich gerötet und entzündet aussah, als würde sie gleich aufreißen. Er berührte eine der Spitzen und stellte fest, dass sie empfindlich war und ein wenig wund. Als er mit den Fingern an den Seiten entlangfuhr, spürte er feste, unnachgiebige Knochen unter der weichen Haut.
    Sein erster Gedanke war, dass er sich dieses Elend selbst zuzuschreiben hatte. Letzte Nacht war er zu später Stunde in den Wald hinter der alten Gießerei gegangen, dorthin, wo Merrin Williams ermordet worden war. Die Leute hatten Andenken unter einen kränkelnden Traubenkirschbaum gelegt, dessen abgeschälte Rinde den Blick auf das nackte Holz darunter freigab. Auch Merrin war so gefunden worden - die Kleider in Fetzen, das nackte Fleisch entblößt. In den Zweigen hingen Fotografien von ihr, eine Vase mit Weidenkätzchen stand da, und überall lagen vorgedruckte Trauerkarten, gewellt und schmutzig von der Witterung.
Irgendjemand - wahrscheinlich Merrins Mutter - hatte ein Zierkreuz in die Erde gesteckt, auf das gelbe Nylonrosen getackert waren, und eine Jungfrau Maria aus Plastik, die so dümmlich und verzückt lächelte, als wäre sie geistig zurückgeblieben.
    Er konnte dieses einfältige Lächeln nicht ertragen. Auch das Kreuz, das dort stand, wo Merrin mit eingeschlagenem Schädel verblutet war, ekelte ihn an. Ein Kreuz mit gelben Rosen! Was für eine kitschige Scheiße. Das war wie ein elektrischer Stuhl, auf dem ein geblümtes Sitzkissen lag - ein verdammt schlechter Witz. Es ärgerte ihn, dass jemand Christus ins Spiel brachte. Christus kam ein Jahr zu spät, um noch irgendwas zu tun. Wo war er gewesen, als Merrin ihn gebraucht hatte?
    Ig hatte das Zierkreuz niedergerissen und war darauf herumgetrampelt. Er hatte pinkeln müssen, also hatte er die Jungfrau Maria ins Visier genommen und sich dabei die Schuhe bespritzt. Vielleicht war diese Blasphemie schuld an seiner Verwandlung? Aber nein - er ahnte, dass da noch mehr passiert war. Er hatte ziemlich viel getrunken.
    Er drehte den Kopf in alle Richtungen, betrachtete sich im Spiegel und hob immer wieder die Hand, um die Hörner zu betasten. Wie tief reichten diese Knochen? Hatten die Hörner Wurzeln, die sich ihm ins Gehirn bohrten? Bei dem Gedanken verdüsterte sich das Badezimmer, als hätte die Glühbirne an der Decke den Geist aufgegeben. Aber die Finsternis befand sich hinter seinen Augen, in seinem Kopf. Die Lampe brannte weiter. Er stützte sich auf das Waschbecken und wartete, bis der Schwächeanfall vorbei war.
    Da stand es ihm plötzlich klar vor Augen. Er würde sterben. Natürlich würde er sterben, natürlich bohrte sich etwas in sein Gehirn: ein Tumor. Die Hörner waren überhaupt
nicht da. Sie waren eine Metapher, pure Einbildung. Er hatte einen Tumor, der sein Gehirn auffraß, und deswegen sah er Dinge, die es nicht gab. Und wenn es schon so weit war, dann gab es keine Rettung mehr.
    Die Vorstellung, dass er sterben würde, war von einem Gefühl der Erleichterung begleitet, als würde er auftauchen und Luft holen, nachdem er zu lange unter Wasser geblieben war. Als Kind wäre Ig einmal fast ertrunken, und er litt unter Asthma. Er kannte das Gefühl zu ersticken gut und wusste jeden Atemzug zu schätzen.
    »Ich bin krank«, flüsterte er. »Ich sterbe.«
    Nachdem er es laut ausgesprochen hatte, besserte sich seine Stimmung sofort.
    Erneut betrachtete er sich im Spiegel. Eigentlich hätte er erwartet, dass die Hörner verschwinden würden, denn jetzt wusste er ja, dass sie nur eine Halluzination waren. Aber so funktionierte das anscheinend nicht. Die Hörner blieben, wo sie waren. Verärgert zupfte er an seinen Haaren, um zu schauen, ob er sie verstecken konnte, zumindest, bis er beim Arzt gewesen war. Als ihm bewusst wurde, wie albern es war, etwas verbergen zu wollen, was außer ihm niemand sehen konnte, ließ er es bleiben.
    Auf unsicheren Beinen ging er zurück ins Schlafzimmer. Beide Bettdecken lagen auf einem Haufen am Fußende, und auf dem Laken war noch immer der zerknitterte Abdruck von Glenna Nicholsons Rundungen zu sehen. Er konnte sich nicht daran erinnern,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher