Andere tun es doch auch (German Edition)
S ONNTAG
K AI Dass ich gerade an der Bar sitze, hat nichts damit zu tun, dass ich gerne an der Bar sitze. Wenn überhaupt, dann nur in Gesellschaft. Bevorzugt in betrunkener Gesellschaft. Und idealerweise in betrunkener Gesellschaft, die Unsinn redet. So wie mein Freund Frank, der bis vor ein paar Minuten noch neben mir saß.
Seit er verschwunden ist, ist die Bar ein ziemlich deprimierender Ort. Ich will nicht stumm in mein Glas starren. Und noch weniger will ich den Barmann anstarren. Ich kann seine Gedanken lesen: »Haha, ich langweile mich hier genauso wie du, aber ich bekomme Geld dafür. Und Toilettensex mit Gästen.« Dann starre ich am Ende doch lieber mein Glas an. Das scheint wenigstens leise »Fehlt dir was?« zu fragen.
Ich erzähle ihm, dass mein Freund Frank von seiner Freundin Irena und einem beschwipsten Damengrüppchen, das ihm eine lange Federboa als Hundeleine um den Bauch geschlungen hat, entführt wurde und ich seitdem eine einsame, traurige Barwaise bin. Und während mein Glas mich angähnt, denke ich mir, dass »vor ein paar Minuten« wahrscheinlich gar nicht stimmt. Kann gut sein, dass es erst wenige Sekunden her ist. Aber die können sich für eine Barwaise in die Länge dehnen, dass es fast bis zum nächsten Vormittag reicht.
Dabei bin ich eigentlich sehr gern unter Leuten. Vor allem unter Leuten, die nicht, wie ich, Architekten sind. Und in dieser Hinsicht ist diese Party perfekt für mich. Eine Filmpremierenfeier. Das heißt, hier laufen nur Filmmenschen rum. Und Filmmenschen nehmen garantiert den ganzen Abend keine Worte wie »Regelgeschoss«, »Aussteifung« und »Gussasphaltestrich« in den Mund. Und auch wenn sie am Anfang noch so hochnäsig daherkommen, sie kümmern sich rührend um einen, sobald man sie darüber aufgeklärt hat, welche Filme man alle noch nicht gesehen hat. Deswegen war es mir ein großes Glück, dass Frank mich auf die Gästeliste der Premierenfeier von Dein Heiß ist mein Kalt schmuggeln konnte. Aber dann mussten ja die trunkenen Federboadamen kommen und so weiter.
Natürlich könnte ich jetzt einfach woanders hingehen, aber die Bar ist der einzig sichere Platz für mich. Auf dieser Party wimmelt es nämlich von Leuten über 30. Und es ist kurz nach Mitternacht. Und Leute über 30, die auf einer Party sind, fangen kurz nach Mitternacht immer an zu tanzen. Sie tun das aus Angst, jemand könnte denken, sie seien über 30. Und sie glauben, dass ihr Nicht-wie-über-30-wirken-woll-Getanze am überzeugendsten aussieht, wenn es in großen, johlenden Pulks geschieht. Deswegen zerren sie jeden, den sie am Schlafittchen kriegen können, mit auf die Tanzfläche. Wirklich jeden. Nur wenn man an der Bar sitzt, ist man vor ihnen sicher. Ich weiß nicht, wer dieses Gesetz geschrieben hat, aber es wird strikt beachtet. Es ist, als würden ich und meine Nebensitzer von einer unsichtbaren Schutzglocke geborgen.
Deshalb werde ich den Teufel tun und mich hier wegbewegen. Ich bin über 30, und ich will auch genau so aussehen. Ich finde mein Alter großartig. Und ich kann nicht tanzen. Ich habe es oft probiert, aber nie gelernt. Wie ein Bär auf Gazellenbeinen war noch das beste Gefühl, das ich jemals bei der Sache hatte. Vielleicht habe ich sogar eine Tanzphobie. Jedenfalls, würde ich jetzt aufstehen, würde ich schneller auf der höllischen Tanzfläche landen als Willi in Theklas Spinnennetz, wenn er ohne Biene Maja unterwegs ist.
Und selbst wenn es mir gelänge, mich von dort wieder zu befreien, mein Barplatz wäre dann von einem anderen Nichttänzer besetzt und ich würde sofort erneut zum Opfer der skrupellosen Tanz-Entführer. Da ist es doch besser, von offensichtlicher Einsamkeit gedemütigt hier zu sitzen, mich an mein stummes Glas als Gesprächspartner zu gewöhnen und von Zeit zu Zeit die Ellbogen der Leute ans Kinn zu bekommen, die sich zwischen mich und meinen Nachbarn drängeln, um Drinks zu bestellen. Was allerdings nicht ganz einfach ist bei der lauten Musik.
»Einen Campari Orange, bitte! … Hey!! Hallo!! Einen Campari Orange, bitte!! … Nein!!! EINEN CAMPARI ORRRAAAAAANGE !!!!«
Gut, diesmal bekomme ich den Ellbogen nicht ans Kinn, sondern nur an die Schulter, denn die Dame ist nicht besonders groß. Dafür schreit sie mir fast direkt ins Ohr. Aber ich habe für all das volles Verständnis, denn ich mag ihre Haare. Sie fallen so, dass ihr bestimmt fünf Friseusen, zehn Freundinnen und über 30 Facebook-Bekanntschaften Tag für Tag mit »Lass dir
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