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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Leiden, und ich kann dir gar nicht ausdrücken, wie sehr du mich dauerst! Aber, liebe Dolly,
    ich habe volles Verständnis für deine Leiden; nur eines weiß ich nicht: ich weiß nicht ... ich weiß nicht, wieviel
    Liebe zu ihm noch in deiner Seele vorhanden ist. Das weißt nur du, – ob du ihn noch so weit liebst, daß du ihm
    verzeihen kannst. Wenn das der Fall ist, dann verzeih ihm!«
    »Nein ...«, begann Dolly, aber Anna fiel ihr ins Wort, indem sie noch einmal ihre Hand küßte.
    »Ich kenne die Welt besser als du«, sagte sie. »Ich kenne solche Männer, wie Stiwa einer ist, und weiß, wie sie
    solche Dinge ansehen. Du sagst, er habe mit ihr über dich gesprochen. Das ist bestimmt nicht der Fall. Solche
    Männer lassen sich wohl eine Untreue zuschulden kommen, aber ihr häuslicher Herd und ihre Gattin, das ist doch für
    sie ein Heiligtum. Jene Frauenspersonen sind ihnen im Grunde doch immer verächtlich und können in die Familie keine
    Störung hineinbringen. Zwischen ihnen und der Familie ziehen die Männer sozusagen eine unüberschreitbare
    Grenzlinie. Ich begreife das nicht recht, aber es ist so.«
    »Ja, aber er hat sie doch geküßt!«
    »Liebste Dolly, hör zu! Ich habe Stiwa gesehen, als er in dich verliebt war. Ich erinnere mich jener Zeit, als
    er zu mir kam und ihm jedesmal die Tränen über die Backen flossen, wenn er von dir sprach; du warst in seinen Augen
    wie ein hehres Wunderwesen der Poesie. Und ich weiß, daß du immer höher in seiner Liebe und Achtung gestiegen bist,
    je länger er mit dir zusammen gelebt hat. Wir haben manchmal über ihn gelacht, weil er hinter jedem Worte
    hinzusetzte: ›Dolly ist eine bewundernswürdige Frau.‹ Du warst für ihn immer eine Gottheit und bist es geblieben,
    und sein Herz weiß nichts von dieser Verirrung.«
    »Aber wenn sich diese Verirrung wiederholt?«
    »Das ist unmöglich, soviel ich davon verstehe.«
    »Ja, aber würdest du ihm denn verzeihen?«
    »Das weiß ich nicht; ich kann es nicht beurteilen. – Oder doch, ich kann es beurteilen«, fuhr sie nach kurzem
    Überlegen fort, nachdem sie im Geiste gleichsam die ganze Lage zusammengefaßt und auf die Waage gelegt hatte, und
    sie fügte hinzu: »Ja, ich kann es beurteilen, ich kann es wirklich. Ja, ich würde ihm verzeihen. Ich wäre wohl nach
    dem Geschehenen nicht mehr dieselbe wie vorher, das mag sein; aber ich würde ihm verzeihen und würde ihm so
    verzeihen, als ob das nicht geschehen wäre, überhaupt nicht geschehen wäre.«
    »Ja, selbstverständlich«, fiel ihr Dolly hastig ins Wort, als ob jene nur ausspräche, was sie selbst sich schon
    oft gesagt habe. »Sonst wäre es ja keine Verzeihung. Wenn man einmal verzeihen will, dann muß man es auch völlig
    und ganz tun. Aber komm nun, ich möchte dich in dein Zimmer führen«, sagte sie, indem sie sich erhob, und umarmte
    Anna im Gehen. »Liebe Anna, wie freue ich mich, daß du gekommen bist! Mir ist jetzt leichter ums Herz, viel
    leichter.«

20
    Diesen ganzen Tag blieb Anna zu Hause, das heißt bei Oblonskis, und empfing niemanden, obgleich mehrere ihrer
    Bekannten, die bereits von ihrer Anwesenheit gehört hatten, gleich an diesem Tage vorsprachen. Anna verbrachte den
    ganzen Vormittag mit Dolly und den Kindern zusammen. Nur ihrem Bruder schickte sie ein Briefchen, er möge unter
    allen Umständen zu Hause zu Mittag essen. »Komm! Gott ist barmherzig«, schrieb sie ihm.
    Oblonski speiste zu Hause; das Gespräch bei Tische war allgemein, auch seine Frau sprach mit ihm und nannte ihn
    dabei du, was sie vorher nicht getan hatte. In dem Verhältnisse des Gatten zur Gattin dauerte die bisherige
    Entfremdung fort, aber es war jetzt von keiner Trennung mehr die Rede, und Stepan Arkadjewitsch sah die Möglichkeit
    einer Aussprache und Versöhnung.
    Gleich nach dem Mittagessen kam Kitty. Sie kannte Anna Arkadjewna, aber nur wenig, und kam jetzt zu ihrer
    Schwester nicht ohne eine leise Bangigkeit, wie diese Petersburger Weltdame, von der alle des Rühmens voll waren,
    sie wohl aufnehmen werde. Aber sie gefiel Anna Arkadjewna, das merkte sie sofort. Anna war augenscheinlich entzückt
    von dem schönen jungen Mädchen, und ehe Kitty sich noch recht besinnen konnte, fühlte sie, daß sie nicht nur in
    Annas Bann geraten war, sondern sich auch in sie verliebt hatte, wie sich eben junge Mädchen in verheiratete
    Frauen, die etwas älter sind als sie, zu verlieben fähig sind. Anna machte gar nicht den Eindruck einer Weltdame
    oder der Mutter eines

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