Anna Karenina
und Anteil daran nähmen.«
»Woher wissen Sie das? – Nun ja!«
»Oh, in was für einem schönen Alter stehen Sie!« fuhr Anna fort. »Ich kenne aus der Erinnerung diesen bläulichen
Nebel, ähnlich wie der auf den Schweizer Bergen, diesen Nebel, der unseren Augen alles verhüllt in jener seligen
Zeit, da die Kindheit eben zu Ende geht und dieser weite, glückliche, lustige Tummelplatz sich dem Dahinwandelnden
immer mehr und mehr zu einem schmalen Pfade verengt; frohen Herzens begibt man sich auf diesen Pfad und doch nicht
ohne Bangigkeit, mag er auch noch so sonnig und schön erscheinen. – Wer hätte das nicht durchgemacht?«
Kitty lächelte und schwieg. ›Aber wie, ja wie mag sie das durchgemacht haben? Wie gern möchte ich
ihren ganzen Liebesroman kennen‹, dachte Kitty in Erinnerung daran, wie schrecklich prosaisch Annas Mann, Alexei
Alexandrowitsch, aussah.
»Ja, ja, ich weiß etwas von Ihrem Geheimnisse«, fuhr Anna fort. »Stiwa hat mir davon erzählt, und ich wünsche
Ihnen von Herzen Glück; er gefällt mir sehr. Ich bin mit Wronski auf dem Bahnhof zusammengetroffen.«
»Ach, war er da?« fragte Kitty errötend. »Was hat Ihnen denn Stiwa gesagt?«
»Stiwa hat alles ausgeplaudert. Und ich würde mich sehr, sehr freuen. – Ich bin gestern mit Wronskis Mutter
zusammen hierher gereist«, fuhr sie fort, »und die Mutter hat zu mir ununterbrochen von ihm geredet; er ist ihr
Liebling. Ich weiß, wie eingenommen Mütter oft von ihren Kindern sind, aber ...«
»Was hat Ihnen denn seine Mutter erzählt?«
»Oh, vieles, vieles! Ich weiß ja, daß er ihr Liebling ist; aber so viel ist doch sicher, daß er eine vornehme,
ritterliche Gesinnung besitzt. So erzählte sie mir zum Beispiel, er habe das ganze Vermögen seinem Bruder
überlassen wollen; schon als Knabe habe er eine außerordentliche Tat vollbracht, indem er eine Frau aus dem Wasser
gerettet hat. Mit einem Worte: ein Held«, sagte Anna lächelnd; sie dachte dabei auch an die zweihundert Rubel, die
er auf dem Bahnhofe für die Hinterbliebenen des Verunglückten gespendet hatte.
Aber von diesen zweihundert Rubeln erzählte sie nichts. Eine unwillkürliche Abneigung hinderte sie daran, dies
zu erwähnen. Sie fühlte, daß in dieser Handlung etwas gelegen hatte, was zu ihr in einer persönlichen Beziehung
stand und was nicht hätte sein dürfen.
»Sie hat mich sehr gebeten, sie doch zu besuchen«, fuhr Anna fort. »Ich freue mich darauf, die alte Dame
wiederzusehen, und will morgen zu ihr fahren. Aber Gott sei Dank, Stiwa bleibt lange bei Dolly in ihrem Zimmer«,
fügte Anna, das Gesprächsthema wechselnd, hinzu und stand auf. Kitty hatte den Eindruck, daß sie mit irgend etwas
unzufrieden sei.
»Nein, ich zuerst! Nein, ich!« schrien die Kinder, die mit ihrem Tee fertig waren und nun wieder zu Tante Anna
hereingestürmt kamen.
»Alle zugleich!« rief Anna und lief ihnen lachend entgegen, umarmte sie und warf sich mit diesem ganzen
kribbelnden, vor Entzücken kreischenden Kinderschwarm auf den Boden.
21
Als der Tee für die Erwachsenen aufgetragen war, kam Dolly aus ihrem Zimmer. Stepan Arkadjewitsch kam nicht mit
ihr; er mußte wohl das Zimmer seiner Frau durch den hinteren Ausgang verlassen haben.
»Ich fürchte, es wird dir oben zu kalt sein«, bemerkte Dolly, zu Anna gewendet. »Ich möchte dich doch lieber
hier unten unterbringen; wir sind dann auch näher beieinander.«
»Ach, ich bitte dringend, macht euch doch um mich keine Sorge!« antwortete Anna und blickte dabei ihre
Schwägerin forschend an, um zu ersehen, ob eine Aussöhnung stattgefunden habe oder nicht.
»Es wird dir hier nur zu hell sein zum Schlafen«, bemerkte Dolly.
»Ich versichere dir, ich schlafe immer und überall wie ein Murmeltier.«
»Wovon ist denn die Rede?« fragte Stepan Arkadjewitsch, der aus seinem Zimmer kam; er wandte sich mit dieser
Frage an seine Frau.
An seinem Tone erkannten sowohl Kitty wie auch Anna sofort, daß eine Aussöhnung zustande gekommen war.
»Ich möchte Anna hier unten unterbringen; aber dann müssen andere Fenstervorhänge aufgehängt wer den. Das
versteht keiner ordentlich zu machen; ich muß es schon selbst tun«, antwortete Dolly, ihm zugewandt.
›Ob sie sich auch wirklich vollständig ausgesöhnt haben?‹ dachte Anna, als sie Dollys kühlen, ruhigen Ton
hörte.
»Ach, mach dir doch nicht immer so viel Mühe, Dolly!« sagte ihr Mann. »Wenn du willst, so kann ich ja alles
zurechtmachen.«
›Ja, sie
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