Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
haben sich bestimmt ausgesöhnt‹, dachte Anna.
    »Das kenne ich schon, wie du alles zurechtmachst«, antwortete Dolly. »Du gibst deinem Matwei irgendwelche ganz
    unmögliche Anweisungen, und dann gehst du davon, und er macht dann lauter dummes Zeug«, und während Dolly das
    sagte, verzog sie mit ihrem üblichen spöttischen Lächeln die Mundwinkel.
    ›Aussöhnung, völlig, völlige Aussöhnung!‹ dachte Anna. ›Gott sei Dank!‹ Und voll Freude darüber, daß es ihr
    gelungen war, dies zustande zu bringen, trat sie an Dolly heran und küßte sie.
    »So ist das ganz und gar nicht; warum verachtest du mich und Matwei so?« erwiderte Stepan Arkadjewitsch, sich
    seiner Frau zuwendend, mit einem kaum bemerkbaren Lächeln.
    Den ganzen Abend über hatte alles, was Dolly zu ihrem Manne sagte, eine leise ironische Färbung, wie das auch
    früher immer so gewesen war, und Stepan Arkadjewitsch war zufrieden und heiter, jedoch nur so weit, daß er doch
    dabei andeutete, er habe trotz der erhaltenen Verzeihung seine Schuld keineswegs vergessen.
    Um halb zehn Uhr wurde dieses besondere muntere und vergnügliche abendliche Familiengespräch am Teetische bei
    Oblonskis durch ein anscheinend ganz unbedeutendes Ereignis unterbrochen; aber dieses unbedeutende Ereignis
    erschien aus eigentümlichen Gründen allen als etwas sehr Bemerkenswertes. Man sprach von einer gemeinsamen
    Petersburger Bekannten, da stand Anna eilig auf.
    »Ich habe ein Bild von ihr in meinem Album bei mir«, sagte sie. »Und bei dieser Gelegenheit kann ich euch auch
    meinen kleinen Sergei zeigen«, fügte sie mit einem stolzen, mütterlichen Lächeln hinzu.
    Nach neun Uhr, wo sie ihrem Söhnchen gewöhnlich gute Nacht sagte, ihn auch oft, ehe sie zu einem Balle fuhr,
    selbst zu Bett brachte, war ihr heute traurig zumute geworden, weil sie so weit von ihm entfernt war; und wovon die
    Rede auch sein mochte, sie kehrte mit ihren Gedanken immer wieder zu ihrem kleinen, krausköpfigen Sergei zurück.
    Sie wollte gern sein Bild betrachten und von ihm sprechen. Daher benutzte sie den ersten Vorwand, der sich darbot,
    stand auf und ging mit ihrem leichten, festen Gang hinaus, um das Album zu holen. Die Treppe, die zu ihrem Zimmer
    hinaufführte, mündete auf den Vorplatz der großen geheizten Haupttreppe.
    In dem Augenblicke, da sie aus dem Wohnzimmer trat, ertönte in der Flurhalle die Klingel.
    »Wer kann das sein?« sagte Dolly.
    »Es ist noch zu früh, als daß es jemand sein könnte, der mich abholen soll; und für einen Besuch wieder ist es
    zu spät«, bemerkte Kitty.
    »Wahrscheinlich jemand mit Akten«, setzte Stepan Arkadjewitsch hinzu. Als Anna an der Haupttreppe vorbeikam,
    lief gerade ein Diener hinauf, um den Ankömmling zu melden; dieser selbst stand unten neben der Flurlampe. Anna,
    die hinunterblickte, erkannte sofort Wronski, und ein seltsames Gefühl, aus Freude und Furcht gemischt, regte sich
    plötzlich in ihrem Herzen. Er stand da, ohne den Überzieher abzulegen, und zog gerade etwas aus der Tasche. In dem
    Augenblicke, da sie in eine Linie mit dem Mittelraume des Treppenhauses gelangt war, hob er die Augen in die Höhe,
    erblickte sie, und in dem Ausdrucke seines Gesichtes wurde etwas wie Beschämung und Schreck sichtbar. Sie ging mit
    leicht gesenktem Kopfe vorüber; aber hinter sich hörte sie die laute Stimme Stepan Arkadjewitschs, der den späten
    Besucher zum Nähertreten aufforderte, und die mäßig laute, weiche, ruhige Stimme Wronskis, der dies ablehnte.
    Als Anna mit dem Album zurückkehrte, war er nicht mehr da, und Stepan Arkadjewitsch erzählte, er sei nur
    hergekommen, um sich wegen eines Diners zu erkundigen, das sie am nächsten Tage einer soeben in Moskau
    eingetroffenen Berühmtheit zu Ehren geben wollten. »Er wollte durchaus nicht hereinkommen; ein sonderbarer Mensch!«
    fügte Stepan Arkadjewitsch hinzu.
    Kitty errötete. Sie glaubte, sie allein wüßte, weshalb er gekommen sei und weshalb er nicht habe eintreten
    wollen. ›Er ist bei uns gewesen‹, dachte sie, ›hat mich nicht getroffen und hat sich gedacht, daß ich hier sein
    würde; aber er hat nicht hereinkommen mögen, weil er meinte, es sei schon zu spät, und weil Anna hier ist.‹
    Alle sahen einander an, ohne etwas zu sagen; dann begannen sie Annas Album zu besehen.
    An sich lag nichts Ungewöhnliches und Befremdliches darin, daß jemand um halb zehn bei einem Freunde vorsprach,
    um Näheres über ein geplantes Diner zu hören, dabei aber nicht ins Zimmer

Weitere Kostenlose Bücher