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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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gesamten Wert und
    Inhalt seines Lebens jetzt darin fand, sie zu sehen und zu hören. Und als er in Bologoje ausgestiegen war, um ein
    Glas Selterswasser zu trinken, und Anna erblickt hatte, da hatte er ihr unwillkürlich mit dem ersten Worte seine
    Empfindung ausgesprochen. Und er war froh darüber, daß er es ihr gesagt hatte und sie es jetzt wußte und daran
    dachte. Er schlief die ganze Nacht nicht. Als er in seinen Wagen zurückgekehrt war, rief er sich unablässig alle
    Stellungen, in denen er sie gesehen hatte, und jedes ihrer Worte ins Gedächtnis zurück, und vor seinem geistigen
    Auge zogen Bilder einer ihm als möglich erscheinenden Zukunft vorüber, Bilder von einem verlockenden Reiz, der ihm
    das Herz stocken ließ.
    Als er in Petersburg ausstieg, fühlte er sich nach der schlaflosen Nacht belebt und frisch wie nach einem kalten
    Bade. Er blieb neben seinem Wagen stehen und wartete, bis Anna ausstiege. ›Ich will sie noch einmal sehen‹, sagte
    er zu sich mit einem unwillkürlichen Lächeln, ›ich will ihren Gang sehen, ihr Gesicht sehen, will die Bewegung
    ihres Mundes sehen, wenn sie etwa mit jemand spricht; und vielleicht wendet sie dann den Kopf und sieht mich und
    lächelt vielleicht.‹ Aber noch ehe er sie selbst sah, erblickte er ihren Mann, den der Bahnhofsvorsteher
    achtungsvoll durch den Menschenschwarm hindurch begleitete. ›Ach ja, ihr Mann!‹ Jetzt zum ersten Male gewann
    Wronski ein klares Verständnis dafür, daß dieser Gatte eine mit ihr in enger Beziehung stehende Persönlichkeit sei.
    Er hatte gewußt, daß sie einen Mann hatte, aber er hatte eigentlich nicht an dessen Dasein geglaubt und gelangte
    erst jetzt zur vollen Überzeugung, als er ihn sah, mit seinem Kopfe und mit seinen Schultern und seinen in
    schwarzen Hosen steckenden Beinen, und namentlich, als er sah, wie dieser Mann mit dem Benehmen des berechtigten
    Eigentümers ihre Hand ergriff.
    Als er diesen Alexei Alexandrowitsch sah, mit seinem petersburgisch frischen Gesichte, in seiner außerordentlich
    selbstbewußten Haltung, mit dem runden Hute, mit dem ein wenig gewölbten Rücken, da mußte er wohl an sein Dasein
    glauben und hatte eine unangenehme Empfindung, etwa wie wenn ein Mensch, vom Durste gequält, zu einer Quelle
    gelangt und an dieser Quelle einen Hund, ein Schaf oder ein Schwein findet, die von dem Wasser getrunken und es
    aufgerührt haben. Die Art, in der Alexei Alexandrowitsch ging, indem er bei jedem Schritte mit dem Becken und den
    plumpen Beinen eine drehende Bewegung machte, hatte für Wronski etwas ganz besonders Abstoßendes. Er erkannte nur
    für sich selbst ein unbestreitbares Recht an, sie zu lieben. Sie aber war unverändert, und ihr Anblick wirkte auf
    ihn ganz wie sonst: er belebte ihn physisch, regte ihn an und erfüllte seine Seele mit einem Gefühle der
    Glückseligkeit. Er befahl seinem deutschen Diener, der aus der zweiten Klasse ausgestiegen und zu ihm geeilt war,
    sich das Gepäck geben zu lassen und damit nach Hause zu fahren; er selbst ging zu Anna hin. Er beobachtete die
    erste Begegnung von Mann und Frau und bemerkte mit dem Scharfblicke des Liebenden an manchen Anzeichen, daß sie im
    Gespräch mit ihrem Manne nicht frei von einer leisen Befangenheit war. ›Nein, sie liebt ihn nicht und kann ihn
    nicht lieben‹, sagte er sich mit großer Bestimmtheit.
    Schon während er von hinten her auf Anna Arkadjewna zuging, bemerkte er mit lebhafter Freude, daß sie seine
    Annäherung fühlte und schon den Kopf drehte, um sich umzuschauen, dann aber, als sie ihn erkannte, sich wieder
    ihrem Manne zuwendete.
    »Haben Sie eine gute Nacht gehabt?« fragte er, indem er sich vor ihr und zugleich auch vor ihrem Mann verbeugte
    und es auf diese Art diesem anheimstellte, die Verbeugung auch auf sich zu beziehen und ihn zu erkennen oder nicht
    zu erkennen, wie es ihm belieben möchte.
    »Ja, ich danke, ich habe sehr gut geschlafen«, antwortete sie. Ihr Gesicht erschien müde, und von dem
    Mienenspiel, durch das sich sonst bei ihr die innere Lebhaftigkeit bald in einem Lächeln der Lippen, bald im Glanze
    der Augen verriet, war jetzt nichts vorhanden; aber für einen einzigen Augenblick blitzte bei einem Anblick in
    ihren Augen etwas auf, und obwohl dieses Leuchten sofort wieder erlosch, machte ihn doch dieser eine Augenblick
    glücklich. Sie sah ihren Mann an, um sich zu vergewissern, ob er Wronski erkenne. Alexei Alexandrowitsch blickte
    diesen mißmutig an und suchte halb zerstreut in seinem

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