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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Jener Zustand nervöser Anspannung, der ihr vorhin solche Pein verursacht hatte, befiel sie von neuem, ja er
    war diesmal noch schlimmer und steigerte sich dermaßen, daß sie jeden Augenblick fürchtete, es werde in ihrem
    Inneren etwas infolge der übermäßigen Spannung reißen. Sie schlief die ganze Nacht nicht. Aber dieser Zustand der
    Anspannung und diese Träumereien, die ihre Seele erfüllten, hatten nichts Unangenehmes oder Trübes an sich; im
    Gegenteil lag darin etwas Freudiges, Glühendes, Belebendes. Gegen Morgen schlummerte Anna, auf ihrem Platze
    sitzend, ein, und als sie erwachte, war es schon heller, lichter Tag, und der Zug war nicht mehr weit von
    Petersburg entfernt. Sogleich fand sie sich wieder mitten in den Gedanken an ihr Hauswesen, an ihren Mann, an ihren
    Sohn und in den Sorgen um den bevorstehenden Tag und die folgenden Tage.
    Sobald der Zug in Petersburg hielt und sie ausstieg, war das erste Gesicht, das ihre Aufmerksamkeit auf sich
    zog, das ihres Mannes. ›Ach, mein Gott, woher hat er nur solche Ohren bekommen?‹ dachte sie beim Anblick seiner
    stattlichen, aber frostig wirkenden Gestalt und namentlich der ihr jetzt auf einmal auffallenden Ohrmuscheln, die
    bis an die Krempe seines runden Hutes hinaufreichten. Als er sie erblickte, ging er ihr entgegen; um seine Lippen
    spielte das ihm zur Gewohnheit gewordene spöttische Lächeln, und mit seinen großen, müden Augen schaute er sie
    unverwandt an. Ein unangenehmes Gefühl preßte ihr das Herz zusammen, als sie seinem starren, müden Blick begegnete,
    wie wenn sie erwartet hätte, ihn als einen ganz anderen vorzufinden. Besonders auffallend war ihr an ihrer eigenen
    Person das Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selbst, das sich ihr jetzt bei der Begegnung mit ihm aufdrängte.
    Dieses Gefühl war ihr zwar altgewohnt und wohlbekannt und hing eben mit jenem Zustande der Verstellung zusammen,
    der zwischen ihr und ihrem Gatten herrschte; aber früher hatte sie dieses Gefühl kaum beachtet, jetzt wurde sie
    sich seiner deutlich und schmerzlich bewußt.
    »Ja, siehst du wohl, dein Mann ist noch genau so zärtlich wie im zweiten Jahr der Ehe und brannte vor Sehnsucht,
    dich wiederzusehen«, sagte er mit seiner langsamen, hohen Stimme, in dem Tone, dessen er sich fast immer ihr
    gegenüber bediente; es lag in diesem Tone eine Verspottung der Leute, die im Ernst so sprächen.
    »Ist Sergei gesund?« fragte sie.
    »Und das ist die ganze Belohnung für meine feurige Leidenschaft?« erwiderte er. »Jawohl, er ist gesund, jawohl
    ...«

31
    Wronski hatte in der Nacht gar nicht versucht zu schlafen. Auf seinem Platze sitzend, starrte er bald geradeaus
    vor sich hin, bald musterte er die Ein- und Aussteigenden, und wenn er schon in früherer Zeit Leute, die ihn nicht
    kannten, durch den Ausdruck der unerschütterlichen Ruhe in seinem Gesichte überrascht und befremdet hatte, so
    erregte er jetzt in noch höherem Grade den Anschein des Stolzes und der Selbstzufriedenheit. Er blickte auf die
    Menschen hin wie auf leblose Gegenstände. Ein nervöser junger Mann, Beamter bei einem Kreisgericht, der ihm
    gegenübersaß, warf wegen dieser Miene einen ordentlichen Haß auf ihn. Der junge Mann hatte sich von ihm Feuer für
    seine Zigarette geben lassen, hatte ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen versucht, hatte sogar eine Gelegenheit
    benutzt, ihn anzustoßen, um ihm zu verstehen zu geben, daß er kein lebloser Gegenstand, sondern ein Mensch sei;
    aber Wronski blickte mit ebenso gleichgültiger Miene nach ihm hin wie nach der Laterne, und der junge Mann schnitt
    Grimassen, weil er fühlte, daß er gegenüber dieser beharrlichen Weigerung, ihn als Menschen anzuerkennen, nahe
    daran war, die Selbstbeherrschung zu verlieren.
    Wronski sah nichts und niemanden. Er kam sich wie ein König vor, nicht weil er geglaubt hätte, auf Anna Eindruck
    gemacht zu haben – das glaubte er noch keineswegs –, sondern weil ihn der Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte,
    mit einem Gefühle des Glückes und Stolzes erfüllte.
    Was aus alledem werden sollte, das wußte er nicht, und er dachte auch nicht einmal daran. Er fühlte, daß alle
    seine bisher planlos zersplitterten Kräfte sich jetzt auf einen Punkt hin drängten und sich mit furchtbarer Gewalt
    auf ein ersehntes Ziel richteten. Und darüber war er glücklich. Er wußte nur, daß er ihr die Wahrheit gesagt hatte:
    daß er nicht anders konnte, als dahin zu fahren, wo sie war, daß er sein ganzes Lebensglück, den

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