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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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und diese Schneehülle wurde immer dichter. Mitunter legte sich der Sturm für einen
    Augenblick; aber dann kam er wieder mit solchem Ungestüm herangebraust, daß es unmöglich schien, ihm Widerstand zu
    leisten. Trotzdem liefen einige Leute in munterem Gespräch über die knarrenden Bohlen des Bahnsteiges hin und
    öffneten und schlossen fortwährend die großen Türen der Bahnhofswirtschaft. Ein gebückter Mann glitt schattenhaft
    unten an Annas Füßen vorbei, und es ertönte der Klang eines Hammers, der auf Eisen schlug. »Gib das Telegramm her!«
    erscholl eine ärgerliche Stimme von der anderen Seite her aus der Dunkelheit und dem Sturme. »Hierher, hierher!
    Nummer 28!« riefen verschiedene Stimmen, und mit Schnee bedeckte, vermummte Gestalten liefen vorbei. Zwei Herren
    mit feurig leuchtenden Zigaretten im Munde gingen vorüber. Noch einmal atmete Anna tief auf, um ihre Lungen mit
    frischer Luft zu füllen, und hatte bereits die Hand aus dem Muff herausgezogen, um die Stange an der Wagentreppe zu
    fassen und wieder einzusteigen, als ein Herr in einem Militärmantel dicht neben ihr durch sein Dazwischentreten ihr
    das flackernde Licht der Laterne verdeckte. Sie wendete sich um und erkannte im gleichen Augenblicke Wronskis
    Gesicht. Die Hand an den Mützenschirm legend, verbeugte er sich vor ihr und fragte, ob sie vielleicht etwas bedürfe
    und er ihr behilflich sein könne. Sie blickte ihn eine ziemliche Weile an, ohne zu antworten, und obgleich die ihr
    zugekehrte Seite seiner Gestalt sich im Schatten befand, sah sie doch den Ausdruck seines Gesichtes und seiner
    Augen oder glaubte wenigstens, ihn zu sehen. Es war wieder jener Ausdruck ehrfurchtsvollen Entzückens, der tags
    zuvor einen so starken Eindruck auf sie gemacht hatte. Mehr als einmal hatte sie sich in diesen letzten Tagen und
    noch eben jetzt gesagt, daß Wronski für sie nur einer aus jenen Hunderten von jungen Männern sei, die einem überall
    begegnen und alle denselben Gesichtsausdruck haben, und daß sie sich nie wieder mit einem Gedanken an ihn erinnern
    werde; aber jetzt, im ersten Augenblicke des Zusammentreffens mit ihm, ergriff sie ein Gefühl freudigen Stolzes. Es
    bedurfte für sie keiner Frage, warum er hier sei. Sie wußte das so sicher, wie wenn er es ihr gesagt hätte, daß er
    hier sei, um da zu sein, wo sie wäre.
    »Ich wußte gar nicht, daß Sie mitfahren. Warum fahren Sie denn?« sagte sie und ließ die Hand, die nach der
    Stange hatte fassen wollen, wieder sinken. Ihr Gesicht strahlte von unbezwinglicher Freude und lebhafter
    Erregung.
    »Warum ich fahre?« erwiderte er und blickte ihr offen in die Augen. »Das wissen Sie; ich fahre, um da zu sein,
    wo Sie sind. Ich kann nicht anders.«
    In diesem Augenblicke fegte der Sturm, als habe er nun alle Hindernisse überwältigt, den Schnee von den Dächern
    der Wagen, rüttelte an einem halb losgerissenen Stück Eisenblech, und vorn heulte klagend und traurig der tiefe Ton
    der Lokomotivpfeife. Aber der ganze Schrecken des Schneesturms erschien Anna jetzt noch schöner als zuvor. Er hatte
    genau das gesagt, wonach ihre Seele verlangt hatte, wovor aber ihre Vernunft bange gewesen war. Sie antwortete
    nichts, und er sah auf ihrem Gesichte ihren innerlichen Kampf.
    »Verzeihen Sie mir, wenn Ihnen das, was ich sagte, unangenehm ist«, sagte er demütig.
    Er sprach bescheiden und achtungsvoll, aber dabei doch in so festem, bestimmtem Tone, daß sie lange nicht
    imstande war, ihm etwas zu erwidern.
    »Was Sie da sagen, ist etwas Unrechtes, und ich bitte Sie, wenn Sie ein rechtschaffener Mensch sind, so
    vergessen Sie, was Sie gesagt haben, wie auch ich es vergessen werde«, entgegnete sie endlich.
    »Keines Ihrer Worte, keine Ihrer Bewegungen werde ich jemals vergessen; ich kann nicht ...«
    »Hören Sie auf, hören Sie auf!« rief sie und bemühte sich vergebens, ihrem Gesichte, auf das er seine heißen
    Blicke heftete, einen strengen Ausdruck zu verleihen. Sie ergriff mit der Hand die eiserne Stange, stieg die Stufen
    hinan und trat schnell in den Vorflur des Wagens. Aber in diesem kleinen Vorflur blieb sie stehen und überdachte
    bei sich das Geschehene. Obgleich sie sich weder seiner Worte noch ihrer eigenen erinnerte, so fühlte sie doch, daß
    dieses kurze Gespräch sie einander in ungeahntem Maße nahegebracht hatte, und sie war darüber erschrocken und
    glücklich zugleich. Nachdem sie so einige Sekunden gestanden hatte, ging sie in den Wagen und setzte sich auf ihren
    Platz.

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