Anna Marx 9: Feuer bitte
er vor Anna und ihrem Buch steht, und überreicht ihr eine rote Rose. Das überwiegend jugendliche Publikum an den Nebentischen kichert, was ihn nicht zu stören scheint. Anna könnte vor Scham in den Boden versinken, was ein großes Loch zur Folge hätte, und schon dafür wünscht sie sich, dass er der Täter, ihr Opfer, sein möge.
Sie schlägt einen Spaziergang vor, um der Scham zu entrinnen, doch nein, er fühlt sich im »Einstein« zu Hause, und er bestellt einen Café Latte, weil sich das so gehört um diese Tageszeit. Der Schal ist gelb. Anna hat gelbe Schals noch nie gemocht, aber darum geht es hier nicht, und so bleibt sie sitzen und sieht ihm schweigend zu, wie er sich aus diesem gelben Schal herauswindet, weil es für diese Halsdekoration ohnehin zu warm ist, drinnen und draußen. Er wirft ihn achtlos auf den freien Stuhl, er ist ein Bohemien und duzt die Kellnerin. Ja, er könnte es sein. Julia war eine Frau mit eindimensionaler Erfahrung. Der Insektenforscher war ihr erster Mann, so sagte die Schwester, und natürlich habe Julia ihn nie betrogen. Anna fragte nicht, was daran natürlich sei, sondern hat es einfach geglaubt. Alles, was sie von Julia weiß, deutet auf eine Frau, die Selbstdisziplin zelebrierte. Etwas, das Anna fremd ist und dem sie deshalb große Bewunderung zollt. Das Weinglas ist fast leer.
Den Hut behält der Dichter auf, Anna tippt boshaft auf eine Halbglatze, und lässt seine forschenden Blicke über sich ergehen. Er sieht eine Frau, die nach dem Glück sucht und sich darüber lustig macht. Stillleben mit Früchtchen, er zitiert Andrade: »Stunden, Stunden ohne Ende, lastende, dumpfe, werde ich auf dich warten, bis alle Dinge verstummen.«
Nichts verstummt, der Lärmpegel ist gewaltig, und Anna zwingt ihr Gesicht zu einem Ausdruck der Bewunderung. Er ist belesen und hat ein formidables Gedächtnis. Er spricht von sich. Warum sprechen Männer so viel von sich, wenn sie doch kaum darüber nachdenken? Eine bescheidene Existenz, ganz und gar der Kunst gewidmet. Ein Büchlein hat er bisher veröffentlicht, doch auch winzige Artikel in kleinsten Zeitungen tragen zu seinem Lebensunterhalt bei. Das Land braucht Poeten, doch es ernährt sie nicht anständig. Hört er jemals auf, von sich zu sprechen?
Anna hört ihm zu und versucht, wie Julia zu denken, wie eine Frau, die Männern vielleicht mit Vertrauen und Staunen begegnet. Sie liebte Bücher. In Julias Wohnzimmerschrank fanden sich, nach dem Alphabet geordnet, neben den üblichen Klassikern vor allem Lyrik und historische Romane, darunter nicht wenige romantische Schmöker. Gehe mit einem guten Buch ins Bett – oder zumindest mit einem Mann, der unlängst ein gutes Buch gelesen hat.
Josef Gangwein spricht über Rilke und zitiert wieder freigebig. Er hat eine schöne Stimme und eine manierierte Art zu sprechen. Den Kaffee schlürft er, und er zerkrümelt das Keks mit plumpen Fingern. Der kalte, professionelle Blick muss ihm aufgefallen sein, denn jetzt unterbricht er seinen Redefluss und bittet Anna, nun doch von sich zu sprechen.
»Ich bin unvollendet«, sagt sie und denkt, dass es sogar wahr sein könnte. »Ich habe nie geheiratet und das Gefühl, dass mir etwas im Leben fehlt. Bücher machen sehnsüchtig, aber sie erfüllen nicht. Um ehrlich zu sein: Ich bin ein sehr einsamer Mensch. Keine Verwandten, und meine Freunde habe ich zurückgelassen, als ich vor zwei Jahren nach Berlin zog.« Lügen, die die Wahrheit berühren, sind die besten. »Früher habe ich als Journalistin gearbeitet, aber sie haben mich ausgemustert, und nun lebe ich von meinem Erbe.«
Der Dichter legt seine Hand auf ihre. Sein Blick ist tiefgründig, und Anna blinzelt nervös, weil sie ihren Instinkt bekämpft, die Hand wegzuziehen. »Geld ist nur eine Fußnote des Lebens«, sagt er, »denn worum es wirklich geht, ist zu lieben und geliebt zu werden.«
Wirklich schön. Warum klingen Sätze wie dieser so anrüchig, fragt sie sich und zieht ganz behutsam ihre Hand unter seiner weg. Sie hat kräftige, lange Finger, und sie hat sich von Sibylle deren Brillantring ausgeborgt, um der Erbin mehr Gewicht zu verleihen. Er hat ihn registriert, die braunen Augen unter erstaunlich langen Wimpern sind anders als der Rest dieses Mannes: sehr wach und flink und überhaupt nicht sentimental. Sie muss aufpassen und jede Geringschätzung verbergen. »Sie haben ja so Recht«, sagt Anna. »Aber wir tun uns schwer mit der Liebe, wenn wir in ein gewisses Alter kommen. Die
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