Anna Marx 9: Feuer bitte
Unbefangenheit ist weg, die Spontaneität, die früher alles so einfach machte.«
»Sie sind doch ein junges Mädchen mit ein paar Falten«, erwidert Josef Gangwein.
Sie kann gar nicht anders, als geschmeichelt zu lächeln. Und denkt an Julia Mauz, die vielleicht bei diesem Satz errötete. Eis schmilzt ganz leicht in der Sonne. Da kommt einer, der dich mit seiner Bewunderung wärmt, und du glaubst, der Eiszeit entronnen zu sein … und es ist falsch, jetzt an Martin Liebling zu denken. Konzentration, Anna: »Ich bin doch sicher nicht die Erste, die Sie über ›Aphrodite‹ kennen lernen?«
Die kurze Pause deutet darauf hin, dass er über die Antwort nachdenkt. Er schlürft den Rest seines Milchkaffees und sagt dann leise: »Nein, es ist nicht mein erster Versuch, aber es könnte doch sein, dass es der letzte ist. Oder?«
Vier Buchstaben schwingen in der Luft, nein, sie hängen schwer und tropfen langsam zu Boden, und Anna muss sie irgendwie auffangen. Und was, wenn er echt ist?, denkt sie. Ein Mensch, der Liebe sucht, mit einer Rose aufkreuzt und fremde Dichter zitiert, weil seine eigenen Reime niemals so schön geraten? Dann wäre sie von beiden der Schurke, und dafür müsste sie sich schämen. Was tut sie? Zündet sich eine Zigarette an, bevor er nach dem Wegwerffeuerzeug greifen kann.
Sein Blick ist fragend, vielleicht sogar flehend, und alles kann falsch oder richtig sein, und Anna tappt im Dunkeln ihres Misstrauens. Julia Mauz ist tot. Warum hat sie nichts hinterlassen, das einer Spur gleichkäme, ein Tagebuch, Briefe, Fotos, ein Überweisungsformular …? Sie hat die halbe Million in bar abgehoben, einfach so. Sie war im Gegensatz zu ihrer Schwester eine bescheidene, sparsame Frau. Was hat er ihr erzählt, um sie dahin zu bringen, ihm alles zu geben? Und was soll sie Josef Gangwein antworten?
»Ich finde Sie sehr nett.«
Jetzt sieht er enttäuscht aus, und Anna schiebt diesem dummen Satz ein Lächeln nach. Sie sollte nun aufstehen und gehen, wie hat sie sich das überhaupt vorgestellt, einen Heiratsschwindler zu überführen? In dem Gespinst aus Lüge und Täuschung, die mit der Begegnung der Geschlechter einhergehen, ist Wahrheit die kostbare Ausnahme. Sie könnte ihn jetzt einfach fragen: Fühlten Sie sich schuldig, als Sie von Julias Selbstmord hörten?
»Ich muss Ihnen ein Geständnis machen.« Josef Gangwein hat die Beine übereinander geschlagen, sich zurückgelehnt und die Arme verschränkt. Der Hut wirft Schatten über sein Gesicht. Anna umklammert ihr leeres Weinglas.
»Mein bisher einziges Büchlein habe ich im Selbstverlag herausgebracht. Ich habe exakt siebenundzwanzig Exemplare verkauft. Poeten sind eine gefährdete Spezies, wissen Sie. Man kann mit diesem Beruf nur Geld verlieren. Aber was ich eigentlich sagen will: Ich bin ein armer Mann. Wenn Sie das stört, sollten Sie jetzt aufstehen und gehen.«
Sie geht nicht. Sie bleibt und redet und hört zu, sie raucht und bestellt noch ein Glas Wein. Poeten sind eine gefährdete Spezies – aber sind sie auch Hochstapler? Eva Mauz hat den Mann einmal gesehen, von weitem, und als sie ihrer Schwester winkte, um auf sich aufmerksam zu machen, wich diese in eine Seitengasse aus. Er trug einen schwarzen Hut, sagte Eva Mauz, und einen weiten Mantel, mehr hat sie nicht erkennen können, zumal sie aus Gründen der Eitelkeit keine Brille trägt. Wie viele Heiratsschwindler mit Hut laufen durch Berlin? Eine vermessene Idee, ihn auf diesem Weg überführen zu wollen.
Doch sie hat keine andere. Anna und Josef, sie duzen sich nach zwei Stunden im »Einstein«, trinken noch eine Flasche Wein zur Feier der Begegnung. Sie haben viel Zeit, sie sind im Vorruhestand aller Erwartungen. Sie teilen die Bewunderung für Rilke und Vermeer und die Ablehnung von politischen Gesprächsrunden mit Frisören. So beginnen Liebesgeschichten, doch natürlich nicht diese, und die Rose beginnt zu verwelken, während die Luft dicker wird mit zunehmender Bevölkerung im »Einstein«-Land, in dem sie Fremdlinge sind inmitten von coolen, jugendlichen Helden, die vom Tod so weit entfernt sind, dass sie das Leben gar nicht wahrnehmen. Die spaßige Generation mit durchtrainierten Körpern, die als Projektionsflächen für Modeuniformen dienen. Jäger des verlorenen Schatzes der Individualität. Von Angst gepeinigt, nicht zum inneren Kreis der nomadisierenden Clubszene zu gehören, die sich auf ein paar Straßen rund um den Hackeschen Markt konzentriert. Anna kann sich kaum noch
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