Anna Strong Chronicles 01 - Verführung der Nacht
sie an meiner offenen Zimmertür vorbeihastet. Ich lasse sie gehen, höre die Haustür zufallen, den Riegel des Schlosses einrasten, ein Auto starten. Als ich davon ausgehen kann, dass ich allein bin, kehre ich in Averys Zimmer zurück.
Diesmal spare ich mir die Finesse. Ich zerre Bücher aus den Regalen, rücke sie mit Hilfe meiner Vampirkräfte ein Stück vor und streiche mit den Händen über die Wand dahinter, auf der Suche nach Ritzen oder Türspalten.
Nichts. Scheiße. Am Fußende des Bettes lasse ich mich auf den Boden sinken. Ich versuche mich genau zu erinnern, was ich letzte Nacht gehört habe. Avery ist von irgendwo an dieser Wand ins Bad gegangen. Oder war es die andere Wand?
Ich wende mich dem Kamin zu. Er ist aus Stein, mit einem gewaltigen Kaminsims, einer leicht erhöhten Platte davor und Nischen links und rechts, in denen Feuerholz gestapelt ist. Die beiden Nischen sind über einen Meter achtzig hoch, und die rechte ist vom Boden bis zur Decke mit frisch zersägten, duftenden Scheitern Zedern- und Kiefernholz bestückt. Die linke ist aber nur halb voll. Und als ich sie näher betrachte, entdecke ich einen feinen Umriss.
Aber wenn das die Tür ist, wie komme ich hinein? Avery musste gestern Abend jedenfalls nicht all dieses Holz ausräumen und wieder aufstapeln, als er in sein Schlafzimmer zurückkehrte. Ich habe gehört, wie sich die Tür schloss und er danach sofort weiterging. Es muss irgendeine Vorrichtung geben, mit der man die Tür öffnet.
Ich trete noch einen Schritt näher. Der Kaminsims ist aus einem Stück, irgendein schweres, dunkles Holz. Ich streiche mit den Fingern darüber, von oben und unten, ohne zu wissen, was ich eigentlich suche, und ohne irgendetwas zu erspüren, das eine Tür öffnen könnte. Ich trete wieder zurück und blicke zu den beiden großen Wandleuchtern aus Messing auf, die den Kamin flankieren. Könnten sie mir den Weg hinein öffnen?
Ich greife nach dem linken Kerzenhalter. Ich ziehe, drücke, drehe. Nichts.
Ich gehe auf die andere Seite. Als ich diesmal ziehe, höre ich ein knirschendes Geräusch, als würde ein Getriebe in Gang gesetzt. Ich mache einen Satz rückwärts und sehe zu, wie die linke Seite des Kamins nach hinten aufklappt und die ganze Wand in einem Gang verschwindet, der direkt vor mir in die schwarze Leere führt.
Ich habe Averys geheime Kammer gefunden. Ich muss einen Moment warten, bis meine Augen sich von dem hellen, sonnendurchfluteten Schlafzimmer auf den dunklen Gang umgestellt haben. Sobald meine Vampirsinne das Sehen übernommen haben, trete ich über die Schwelle. Eine lange, hölzerne Treppe führt offenbar steil hinab, fast wie eine Leiter. Die Treppe ist schmal, kaum einen halben Meter breit. Die Wand auf einer Seite ist aus Stein, vermutlich die Außenmauer des Hauses, die andere aus Holz. Daran ist ein Geländer befestigt, an dem ich mich nun festhalte und den Abstieg beginne. Ich kann nicht bis zum Fuß der Treppe sehen. Ich kann auch nichts hören. Diese unheimliche Stille lässt mich unwillkürlich erschauern. Es müssen um die hundert Stufen sein. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, stehe ich auf gestampfter Erde. Der faulige Geruch verrotteter Vegetation sagt mir, dass ich tief unter der Erde sein muss. Avery hat sich eine kleine unterirdische Festung gebaut.
Ich entdecke eine Tür, etwa fünfzehn Meter vom Fuß der Treppe entfernt. Ich weiß jetzt schon, dass sie nicht abgeschlossen sein wird. Avery rechnet nicht damit, dass irgendjemand diesen Ort ohne seine Hilfe finden könnte. Und ich behalte recht. Die Tür lässt sich einfach aufschieben. Dahinter ist ein großer Raum, etwa sieben mal acht oder neun Meter, mit aufgestapelten Holzkisten an einer Wand und Regalen an der nächsten. Rechts von der Tür ist ein Lichtschalter. Ich drücke darauf, und der Raum wird in ein kaltes Licht getaucht. In den Regalen stehen Keramiksachen, Vasen, Schmuckgegenstände aus Gold und Silber, die glänzen und glitzern, trotz der schwachen unterirdischen Beleuchtung aber mehr Licht braucht ein Vampir auch nicht.
Ich verstehe nicht viel von Kunst, aber ich erkenne, welch einen Schatz ich hier vor mir habe. Die anmutige Schönheit uralten chinesischen Porzellans, die komplizierten Verzierungen an ägyptischen Antiquitäten, die schlichte Pracht von Töpferwaren und Schmuck der Maya ich habe die Quelle von Averys Reichtum entdeckt. Über Jahrhunderte hinweg angesammelt, nehme ich an, Stück für Stück verkauft, wenn
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