Anna Strong Chronicles 01 - Verführung der Nacht
Notwendigkeit dazu besteht. Ich weiß nicht, was in diesen Kisten ist, aber ich würde auf weitere Schätze wetten. Mit dem Inhalt dieses Raums könnte man ein kleines Museum bestücken oder einem Unsterblichen für alle Ewigkeit einen luxuriösen Lebensstil sichern.
Hier ist im Grunde nichts, was Avery belastet. Natürlich kann ich nicht wissen, wie er an diese Schätze gekommen ist. Da er ein Vampir ist, ging es dabei vielleicht nicht immer mit rechten Dingen zu. Aber welches große Vermögen, ob es nun einem Menschen oder einem Vampir gehört, wurde je ohne einen Hauch von Unmoral angehäuft? Ich habe nichts gefunden, was ein weiteres Eindringen in Averys Privatsphäre rechtfertigt. Wieder einmal habe ich das Schlimmste angenommen und mich in ihm getäuscht. Casper hatte recht. Meine Instinkte sind wirklich alles andere als zuverlässig. Nun, zumindest kann ich es diesmal wieder in Ordnung bringen.
Ich kann verhindern, dass Avery von meinem Eindringen in seine unterirdische Schatzkammer erfährt. Es wird nicht leicht sein, das aus meinen Gedanken herauszuhalten, aber ich werde es schaffen. Ich will nicht noch einmal riskieren, ihn wegen eines vagen, völlig unbegründeten Verdachts zu verlieren.
Ich muss mich zusammennehmen und mich auf die Suche nach David konzentrieren. Ich werde ganz von vorn anfangen müssen. Noch heute Abend fahre ich nach Beso de la Muerte. Das wird Avery nicht gefallen, aber er wird damit leben müssen.
Als ich mich umdrehe und zur Tür zurückgehe, bemerke ich erst, dass sich noch etwas in diesem Raum befindet. Ein Bündel tief in den Schatten, das aussieht wie ein aufgerollter Teppich, der dort längs an der Wand liegt. Vermutlich ein kostbarer Orientteppich, aus irgendeinem königlichen Schloss entwendet.
Ich würdige ihn kaum eines Blickes, zunächst. Aber dann… Eine winzige Bewegung. Habe ich mir das eingebildet? Den Blick starr auf den Teppich gerichtet, werde ich geradezu unwillkürlich dorthin gezogen. Eisige, schwarze Stille hüllt mich ein.
Ich wappne mich für das Schlimmste. Ich knie mich hin, ziehe eine Ecke des Teppichs zurück und zittere dabei so sehr, dass ich den Teppich mit beiden Händen packen muss.
Ich glaube, ich weiß es. Ich glaube, ich bin bereit. Doch das Grauen dessen, was ich entdecke, ist schrecklicher als alles, was ich mir vorgestellt hatte. Ich habe David gefunden.
Gefesselt und geknebelt liegt er still und bleich wie der Tod auf dem Boden.
KAPITEL 36
Ich höre ein Stöhnen, tief und verzweifelt. Ich brauche einen Moment, bis ich merke, dass das meine eigene Stimme war, meine eigene Verzweiflung. Ich zittere immer noch. Ich kann mich nicht mehr aufrecht halten, sondern sinke neben David zu Boden, schlinge die Arme um ihn und drücke meine Wange an seine. Wie konnte das geschehen? Wie konnte ich das zulassen? Wie konnte Avery mir das antun? In diesem Augenblick spüre ich es.
Eine leichte Bewegung in meinen Armen, der Kopf bewegt sich, ein flacher Atemzug. Ich fürchte, das sei nur meine Einbildung. Ich richte mich auf und drücke das Ohr an seine Brust. Und lausche. Ein schwacher Herzschlag. Er ist nicht tot.
Ich zerre an dem Teppich, reiße ihn auseinander und befreie Davids eingeschnürte Brust. Er stöhnt leise, doch seine Augen bleiben geschlossen, sein Atem geht schwer. Ich umfasse seinen Kopf mit beiden Händen und schüttele ihn sanft.
»Komm schon, David. Mach deine schönen Augen auf. Rede mit mir.«
Er reagiert nicht. Er liegt in einer Art Koma. Vielleicht wurde er betäubt. Oder Ich drehe seinen Kopf zur Seite. Und finde, was ich erwartet hatte. Avery hat von David getrunken. Er hat zwei Wunden an der Halsschlagader. Keine kleinen Stiche wie bei Dena, sondern hässliche, klaffende Wunden, die jemand im Blutrausch gerissen hat. Jemand, dem es egal ist, ob er Spuren hinterlässt, weil er sicher ist, dass niemand sein Opfer je finden wird. Avery.
Wut, glühend heiß, brennt so tief in meinem Inneren, dass ich sie zurückdrängen und aus meinen Gedanken vertreiben muss.
Die Rache kommt später. Zuallererst muss ich David in Sicherheit bringen. Zu meinem Erschrecken fällt mir auf, dass ich nichts darüber weiß, wie das Trinken sich auf den menschlichen Körper auswirkt. Wird David sich von allein erholen?
Braucht er eine Bluttransfusion? Kann ich es riskieren, ihn in ein Krankenhaus zu bringen? Ich kann keine dieser Fragen beantworten. Die einzige Person, die ich fragen könnte, ist die letzte Person, die ich fragen kann. Ich nehme
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