Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
verbeugen sich steif, als kleine Andeutung ihres Widerwillens. Andere verneigen sich tief, weil es ihnen so oder so gleichgültig ist, wer sie anführt. Chael neigt nur den Kopf, aber nicht den Oberkörper. Von ihm habe ich am ehesten solche Beschwerden oder Petitionen zu erwarten, vor denen Frey mich gewarnt hat. Er wird mir wahrscheinlich weiterhin Ärger machen wollen.
Ich nehme seine Unverschämtheit mit einem Nicken zur Kenntnis. Er mag tausend Jahre alt sein, aber gegen mich kämpfen wollte er nicht. Sein Getue kann meiner Selbstsicherheit nichts anhaben.
Turnbull wartet ab, bis der ganze Kreis sich vor mir verneigt hat, dann weist er zur Tür. Wir ziehen uns jetzt für eine Stunde zurück. Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. Um ein Uhr werden wir uns wieder hier versammeln. Dann können Anliegen vorgebracht werden. Erfrischungen stehen im Wohnzimmer bereit.
Er wartet, bis alle den Raum verlassen haben, und schließt dann die Tür, so dass wir ungestört sind. »Erfrischungen?« Ich sehe ihn mit hochgezogener Braue an.
»Diese Vampire aus alten Zeiten gehen nirgendwohin, ohne sich von einem Blutswirt begleiten zu lassen. Es sind sicher einige zusätzlich vorhanden, falls du dich ihnen anschließen möchtest.«
Der nahrhafte Abend steht mir deutlich vor Augen – erst Frey, dann Lance. »Nein danke, ich möchte nichts.« Das hört sich an, als würde ich ein Glas Wein oder einen Martini ablehnen, kein menschliches Blut von einem lebenden Wirt. Seit wann bin ich so abgebrüht?
Ich komme hinter dem Schreibtisch hervor, und wir setzen uns nebeneinander auf Stühle in dem Kreis. Er zieht die Luft ein und stößt sie langsam und bewusst wieder aus. »Ich weiß, dass das nicht leicht für dich war. Ich habe Chael gesagt, wie abscheulich ich seine Vorgehensweise finde – einen Gegner aufzustellen, mit dem dich eine persönliche Geschichte verbindet. Er wusste sogar, dass ihr beiden euch im Streit getrennt habt. Trotzdem dachte er, Lance könnte dich besiegen.«
Offenbar hat er noch etwas anderes auf dem Herzen. Ich kann mir vorstellen, was. »Ich habe die Wahrheit gesagt, was Williams angeht. Ich hatte mit seinem Tod nichts zu tun.«
Er sieht mir in die Augen, schätzt ab, betrachtet die Person, die hier vor ihm sitzt, und die Person, der er in Denver geholfen hat. »Ich glaube dir. Du magst hitzköpfig, stur und launenhaft sein, aber du sagst die Wahrheit.«
Ich lächle. »Das schon wieder? Du glaubst also immer noch daran, was Warren Williams dir über mich erzählt hat?«
Er lacht. »Jetzt erst recht. Du hast einen der Dreizehn herausgefordert. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
Irgendetwas an Turnbull ist anders. Etwas, das mir vorher logischerweise nicht aufgefallen ist – weil ich mit einem Kampf auf Leben und Tod beschäftigt war. Aber jetzt weiß ich genau, was es ist. Als ich ihn in Denver gesehen habe, war sein Haar dunkler, und er hatte eine etwas andere Figur – dicker um die Mitte. Eine Tarnung, die er benutzt hat, damit er zu Hause in Durango bleiben konnte. Ein leicht verändertes Aussehen für jede Generation. »He, du hast abgenommen!«
Er lacht. »Hier brauche ich die Polster nicht zu tragen. Es ist eine Erleichterung, die mal eine Weile los zu sein.«
Wir verfallen in Schweigen. Ich überlege, ob ich versuchen sollte, Frey auf seinem Handy zu erreichen. Um ihm zu sagen, dass ich noch unter den Lebenden weile – gewissermaßen. Aber die Nacht ist noch nicht vorbei. Vielleicht warte ich lieber, bis alles erledigt ist.
Turnbull bleibt bei mir sitzen. Anfangs unterhalten wir uns nicht. Keiner von uns öffnet dem anderen seinen Geist, aber ich fühle mich keineswegs unbehaglich. Nach ein paar Minuten jedoch beginnen meine Gedanken um ein vertrautes Thema zu kreisen. Mir geht auf, dass Turnbull womöglich der Einzige ist, der bereit oder in der Lage sein könnte, die hundert Fragen zu beantworten, die sich mir gerade stellen.
Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll, aber »Turnbull, was genau bin ich eigentlich?« scheint mir ganz geeignet. Er zieht die Augenbrauen hoch. »Wie meinst du das?«
»Die Auserwählte. Wie bin ich zu der Einen geworden? Wer hat mich gewählt? Warum? Ehe ich zum Vampir wurde, war ich eine alleinstehende Frau aus der oberen Mittelschicht. Ich hatte – habe – eine liebevolle Familie. Ja, mein Beruf ist etwas unkonventionell, aber was für Eigenschaften soll ich besitzen, die mich zum Oberhaupt der mächtigsten Geschöpfe auf Erden machen?
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