Anna Strong Chronicles 06 - Gesetz der Nacht
»Nein. Sie verlässt ihr Anwesen nur selten. Eine Gruppe Vampire wohnt jetzt bei ihr. Es geht das Gerücht, dass ihnen echte vampirische Kräfte fehlen sollen. Eine seltsame Geschichte.«
Aber wahr. Die Vampirinnen wurden von ihrer Schwester nur zu einem einzigen Zweck geschaffen – um ihr Blut zu ernten. Wenn ich daran denke, wie ich sie gefunden habe, schaudert es mich jetzt noch. Turnbull erzähle ich diese Geschichte nicht. Das bleibt besser zwischen Sophie und mir. Ich verrate ihm auch Sophies zweites großes Geheimnis nicht – sie teilt ihren Körper mit einem Vampir. Sie hat versehentlich seine Essenz in sich aufgenommen, als ein Experiment mit Vampirasche schiefging.
Jetzt leben sie zusammen, wenn schon nicht friedfertig, so doch wenigstens angenehm. Der Vampir hieß Jonathan Deveraux, und ich vermute, dass Turnbull ihn gekannt hat. Vielleicht war er sogar auf der Party, bei der sich der tödliche »Unfall« ereignet hat.
»Also, falls du sie siehst, grüß sie schön von mir. Ich bin sehr dankbar dafür, dass sie mir geholfen hat.« Ich lasse einen Moment verstreichen, ehe ich frage: »Und was passiert jetzt?«
Turnbull zuckt mit den Schultern. »Hier bist du soweit fertig. Außer du möchtest die Party im Wohnzimmer mitfeiern.«
»Muss ich das?«
»Nein. Wahrscheinlich wäre es sogar besser, du lässt es sein. Wenn du nicht da bist, wird Chael vielleicht unvorsichtig und erzählt uns, was er noch für Trümpfe im Ärmel hat.«
»Ich dachte, meine Entscheidung sei endgültig. Kann er uns wirklich wieder zusammenrufen?« Ich sage »uns«, obwohl ich genau weiß, dass er nicht die Absicht hat, mich an einer neuerlichen Ratsversammlung teilnehmen zu lassen.
Turnbull scheint das auch zu wissen. »Das ist sein Recht. Vor allem, wenn sich die Zusammensetzung der Gruppe maßgeblich verändert.«
Nicht sonderlich subtil. »Hieß es nicht, dass dieses Treffen nur alle zweihundert Jahre... ?«
Ein Achselzucken. »In den vergangenen tausend Jahren ist der Rat nur fünfmal zusammengetreten, wie es das uralte Gesetz verlangt. Aber in den letzten zweihundert Jahren hat sich die Welt drastisch verändert. Die meisten sind inzwischen der Ansicht, dass zweihundert Jahre Abstand zwischen den Versammlungen zu lang sind. Das Grimoire sieht vor, dass jedes Stammesoberhaupt eine Versammlung einberufen kann, wenn die Umstände es rechtfertigen.« Nach einer kurzen Pause fährt er fort: »Deshalb halte ich es für klüger, dass du jetzt gehst, Anna. Allein werde ich es leichter haben, die Wahrheit zu erfahren. Dann kann ich dich vor ihren Plänen warnen.«
Ich reibe mir mit den Fingerspitzen die müden Augen. »Dann gehe ich. Aber da ist noch eine Sache. Würdest du Judith Williams bitte etwas von mir ausrichten? Ich verlange, dass mir sämtliche Unterlagen über Averys Nachlass zugeschickt werden. Ich wollte nie etwas damit zu schaffen haben, aber ich werde ihr verdammt noch mal nicht einfach alles überlassen. Ich will jegliche Verbindung zwischen mir und der Familie Williams endgültig abbrechen.«
Turnbull nickt. »Wird erledigt.«
Er begleitet mich zur Haustür. Mit einem letzten Blick ins Wohnzimmer prägt sich mir ein Bild ein, das sich nur als böses Vorzeichen erweisen kann. Judith Williams und Chael sitzen dicht beieinander und ganz allein vor dem Kamin. Sie haben die Köpfe zusammengesteckt und dem Raum den Rücken zugekehrt. Warum habe ich das Gefühl, dass mir der größte Ärger erst noch bevorsteht?
Epilog
Ich konnte einfach nicht in die Bar gehen, nachdem ich Averys Haus verlassen hatte. Ich habe Frey angerufen, Entwarnung gegeben und den Abend nur vage umrissen. Ich wusste, dass er tausend Fragen hatte, aber er hörte wohl an meiner Stimme, wie erschöpft ich war, denn er bohrte nicht weiter nach. Ich bat ihn, Culebra anzurufen und Bescheid zu geben, dass ich den Abend überlebt hatte, und er versprach es mir.
Am nächsten Tag traf ich mich mit Tracey. Ich bat sie, David nichts von unserem Gespräch zu sagen, wenn er später im Büro erscheinen würde. Ich gab zu, dass es gar kein »Spiel« gab, und erklärte ihr, dass ich ihr nicht mehr sagen dürfe und die Situation sehr kompliziert sei. Eine nette Floskel.
Statt nachzuhaken, blickte sie mir direkt in die Augen. »In Ordnung. Fürs Erste. Aber eines weiß ich: Du bist nicht das, was du zu sein scheinst. Ich kann warten. Du wirst mir vertrauen müssen. Irgendwann.« Irgendwie glaube ich ihr.
David kam ins Büro, immer noch wund und darüber
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