Anna und Anna (German Edition)
in der Bewegung.
Jans Vater setzte sich als Erster langsam wieder in Gang, kam bis auf den Gehweg hinaus und sagte: »Hallo, Anna.«
»Hallo«, sagte Anna über die Straße hinweg.
»Wie geht es dir?«
»Och.« Sie zuckte die Achseln. »Ganz gut. Und Ihnen?«
Er lächelte ein trauriges, schiefes Lächeln. »Ich vermisse meinen Sohn.«
Anna nickte. Das »Ich auch« brachte sie nicht über die Lippen. Ich konnte förmlich sehen, wie zugeschnürt ihre Kehle plötzlich war.
Jans Vater scharrte nervös mit den Füßen. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Ihr habt nicht vielleicht noch Kontakt, du und Jan?«, fragte er.
Anna nickte wieder. »Doch. Schon«, würgte sie heraus.
»Grüß ihn mal von mir, ja?«, sagte er leise. So leise, dass seine Worte es fast nicht bis über die Straße zu Anna und mir geschafft hätten. Als sie schließlich doch bei uns ankamen, drehte sich Anna um und ging einfach davon.
Ich habe lange darauf gewartet, dass Anna mit mir über Jans Vater redet. Aber sie sagt nichts. Kein Wort. Keinen Ton. Das macht mir Sorgen, denn normalerweise redet Anna mit mir doch über alles.
Ich höre dich fast sagen: Bist du sicher?
Ja, ich bin mir sicher.
Wenn Anna mir eine Frage stellt, antworte ich, so ehrlich es geht. Und wenn ich Anna eine Frage stelle, macht sie dasselbe.
Also sollte ich sie vielleicht einfach fragen …
Ich habe eben den Kopf zu ihrer Tür hineingesteckt. Anna saß an ihrem Schreibtisch vorm Fenster, den Kopf in die linke Hand gestützt, die rechte mit ihrem Lieblingskugelschreiber bewegungslos über einem Blatt Briefpapier verharrend. Sie starrte düster vor sich hin.
»Und?«, fragte ich. »Wirst du Jan die Grüße seines Vaters ausrichten?«
Annas Kopf ruckte hoch. Ich konnte dabei zusehen, wie sie in Millisekunden einen Entschluss fasste. »Nein«, sagte sie, »das mache ich nicht.«
Ich musste nicht mal fragen: Warum? Es sprudelte jetzt einfach so aus ihr heraus.
»Er ist doch schuld!«, schrie sie. »Er hatte eine Freundin! Er hatte eine Freundin und deshalb ist Jans Mama gegangen und deshalb ist Jan mit ihr gegangen und deshalb sehe ich Jan nie, nie wieder. Und deshalb tut mir sein Vater auch kein Stück leid, hörst du? Kein Stück!«
»Ah«, sagte ich gelassen. »Gerechter Zorn. Das ist der beste. Man fühlt sich gut dabei, nicht wahr? Denn man ist ja im Recht! Und man muss sich auch überhaupt nicht fragen, was den anderen zu seiner Tat getrieben hat. Wirklich sehr schön.«
Darauf hat Anna nichts mehr gesagt und ich bin gegangen.
Anna hat schlechte Laune.
Alle merken es.
Bella fragte sie, ob alles in Ordnung ist. Anna raunzte sie zur Antwort böse an.
Ben wollte ihr extra zärtlich den Lockenkopf streicheln. Anna zog den Kopf einfach weg.
Benni lieh ihr sein liebstes Matchboxauto. Anna sagte zumindest Danke.
Ich habe ihr einen Brief geschrieben und ihn in unseren toten Briefkasten gelegt. Und gewartet. Ich warte immer noch. Während ich warte, überlege ich, ob ich wohl die richtigen Worte gefunden habe.
Das habe ich geschrieben:
Mein lieber Schatz,
ich kann mir nicht helfen, aber Jans Vater tut mir schrecklich leid.
Ich weiß nicht, was in seiner Ehe vorgefallen ist. Ich weiß nicht, was er getan hat und welche Fehler er gemacht hat. Ich weiß nur, dass er seinen Sohn ganz offensichtlich furchtbar vermisst.
Er leidet.
Und es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber Jan leidet bestimmt auch.
Nun sei mir nicht bös, dass mir hin und wieder einfällt, wie viele Jahre ich schon auf dem Buckel habe und was ich in diesen Jahren über die Menschen gelernt habe. Es ist ja nicht viel! Es ist sogar verschwindend gering! Aber vielleicht kann es dir heute mal von Nutzen sein,
hofft deine dich liebende
alte Oma
Liebe Oma,
du bist nicht alt.
Schließlich kletterst du auf Kastanienbäume.
Und baust Schneemänner.
Also.
Man ist so alt, wie man sich fühlt, sagt meine Enkelin.
Ich befürchte, das ist nicht wahr.
Ich zum Beispiel habe so viele Schmetterlinge im Bauch, dass ich mich nach tanzen fühle – ich kann aber nicht, wie ich will. Erstens hindert mich mein Körper, dem ein Bein fehlt. Zweitens hat man einfach so viel zu tragen nach einem langen Leben. Ich fürchte, selbst mit zwei Beinen wäre die Last zu schwer für mich.
Sicher bin ich mir allerdings nicht …
Mein lieber Henri,
ja, dieser Brief kommt ganz allein, ist keine Sammlung aus Niederschriften verschiedener Tage wie
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