Anna und Anna (German Edition)
Benni, Mama und Papa schienen sich auch nicht sonderlich wohlzufühlen. Wir sprachen alle ganz leise und schauten schnell weg, als ein Patient in seinem Bett neben uns in den Aufzug gerollt wurde. Nur kurz habe ich ihn angesehen. Er hatte eine Kanüle im Arm und trug ein gestreiftes Krankenhausnachthemd. Und er hatte die Augen geschlossen.
Benni rückte etwas näher an Papa heran.
Ich hatte Angst, dass Oma mit Schläuchen in ihrem Arm und geschlossenen Augen auf uns warten würde.
Aber Oma war wie immer. Sie saß fertig angezogen auf ihrem Bett und lächelte uns entgegen. »Da seid ihr ja«, sagte sie munter.
»Wir kommen, um dich nach Hause zu holen«, erklärte Benni.
Henri tätschelte ihm dafür das Haar.
Mama machte ein Gesicht, als wollte sie anfangen zu weinen.
Oma schnaubte. »Jetzt stellt euch nicht so an«, sagte sie, »ihr übertreibt ja maßlos. Und wenn du«, sie hob vor Mamas Nase einen Zeigefinger, »anfängst, meine Reisen verantwortlich zu machen, rege ich mich auf.«
»Der Arzt hat gesagt, du sollst dich nicht aufregen«, protestierte Mama schwach.
»Genau«, erwiderte Oma zufrieden.
Ich stand nur so da.
Oma sah mich an. »Käptn«, sagte sie. »Lieber Schatz.«
Da habe ich sie umarmen müssen. Aber ich glaube, das war okay. Sie umarmte mich nämlich zurück.
Als ich sie losließ, lächelte sie in die Runde. »Das ist alles halb so wild«, sagte sie. »Ich habe schon Schlimmeres überlebt.«
Gruß, lieben,
Bloom
PS
Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste –
Jo-ho-ho, und ne Buddel voll Rum.
»Die Schatzinsel«
Lieber Henri,
jeder muss sterben, hat meine Mutter gesagt. Damals, als Oma ihr Bein verlor. Jetzt habe ich Oma verloren. Und ich weiß nicht, ob ich das aushalte.
Sie hat gesagt, sie habe schon Schlimmeres überlebt! Und sie hatte doch sonst immer recht. Warum nur musste sie sich dieses eine Mal irren?
Es tut mir so leid, Henri.
Ich tue mir leid.
Und vor allem tut mir Oma leid. Sie wollte doch gar nicht gehen! Und ich wollte das auch nicht.
Anna
Oma.
Ich kann nicht mal dieses Wort schreiben, ohne dass mir das Herz wehtut. Ich weiß jetzt ganz genau, wo es in meiner Brust sitzt, da nämlich, wo es so schrecklich schmerzt. So hat es sich nicht mal angefühlt, als Jan mich verließ. Das erste Mal. Mit elf.
Er ist übrigens wieder da. Gestern stand er am Gartenzaun. Sobald ich ihn entdeckt hatte, bin ich reingerannt. Er ist da am Zaun stehen geblieben. Ich habe ihn vom Küchenfenster aus beobachtet. So lange, bis er gegangen ist. Und als er ging, habe ich geweint.
Ich weine viel, Oma.
Ich denke, ich werde nie wieder aufhören können zu weinen. Ich denke, ich sollte mehr trinken, wenn ich nicht bald aufhöre zu weinen. Denn sonst werde ich austrocknen, vertrocknen, zusammenschrumpeln, bis nur noch ein Hauch von mir übrig ist. Und dieser Hauch wird vielleicht vom Wind verweht, wenn ich ihn nett bitte.
Ich werde sehr nett bitten.
Ich liege auf meinem Bett und kann mich nicht bewegen. Die Sonne wandert draußen über den Himmel. Sie ist schon bald am Ende ihrer Reise angekommen, sie muss den Horizont bald erreicht haben, denn ihr Licht, das durch mein Fenster fällt, ist golden, so golden wie früher, wenn du sagtest: »Ein Licht zum Aus-der-Haut-Fahren, so schön.«
Mama klopft, schon wieder, aber ich liege nur auf meinem Bett und kann mich nicht bewegen. Nie mehr.
Jan ist da. Er steht neben meinem Bett und schaut auf mich herunter. Und er sagt: »So geht das nicht, Bloom.«
Erst höre ich nicht genau, was er sagt, denn ich bin so leer geweint und schwach und müde, dass meine Ohren mir nicht gehorchen, als ich ihnen sage: Hört her, bitte. Sie wollen nichts hören und ich will nichts wissen, aber es ist Jan, der da steht, und deshalb muss ich es wissen, ich muss ihm zuhören und ich höre: »So geht das wirklich nicht, Bloom. Du machst dich ja ganz krank.«
Ich schüttele benommen den Kopf. Was?
Er sagt: »Das hätte deine Oma nicht gewollt. Komm schon, reiß dich zusammen.«
Dann geht er.
Warum hacken sie denn alle auf mir herum? Sind sie etwa nicht traurig?
Doch, ich weiß, dass Mama traurig ist. Unendlich traurig. Sie sieht kleiner aus in diesen Tagen, glaube ich. Ich weiß es aber nicht genau.
Macht mich das zu einer schlechten Tochter? Bin ich eine schlechte Schwester? Muss ich mich dafür entschuldigen, dass ich es nicht schaffe, nicht zu weinen? Nicht immerzu traurig zu
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