Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Tonnen Bleigewichten in der 59. Etage beseitigt worden. Nun erhob sich der Turm unbezwingbar und jedes Mal aufs Neue vermittelte es ein berauschendes Gefühl von Erhabenheit, in diesen Olymp aufzufahren, diesen Asgard, von dessen Zinnen die Sterblichen am Boden als bloße Insekten erschienen, die während der kurzen Tage ihres bedeutungslosen Lebens ohne Orientierung umherkrabbelten.
Die Räume von Westbury, Hawthorne & Clarke befanden sich in der 52. und 53. Etage. Die Kanzlei mit Standorten in Boston, New York, Chicago und San Francisco gehörte mit 62 Partnern und 94 Associates nicht zu den größten, dafür aber zu den renommiertesten Kanzleien für Steuer- und Wirtschaftsrecht der Vereinigten Staaten. Zu unseren Mandanten gehörten in- und ausländische Konzerne, national und international tätige Familienunternehmen, einige der vermögendsten Privatpersonen Nordamerikas, Stiftungen und Trusts, öffentliche und gemeinnützige Institutionen. Insgesamt betreuten wir dauerhaft mehr als 3.000 Mandanten, darunter mehr als die Hälfte der im Dow Jones verzeichneten Unternehmen.
Anwälte von Westbury, Hawthorne & Clarke wurden unter anderem immer dann mit einem Fall betraut, wenn andere gescheitert waren, Auseinandersetzungen mit dem IRS, der amerikanischen Steuerbehörde, auszufechten waren oder Sachverhalte und Vertragsbeziehungen für die Zukunft wirtschaftlich und steuerlich wasserdicht gestaltet werden mussten, um die Beteiligten vor größtenteils millionenschweren Steuerlasten zu bewahren. Sie gehörten zu den besten Rechtsanwälten des Landes. Ich, Ethan Meyers LL.M., Attorney-at-Law, war einer von ihnen.
Bereits während meines Studiums an der Harvard Law hatte die Kanzlei, die über erstklassige Verbindungen zu den Professoren der juristischen Fakultäten der Ivy-League verfügte, über den Lehrstuhl für Steuerrecht Kontakt zu mir aufgenommen und mir eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter angeboten. Es folgten einige Aufträge, die ich in zum Teil nächtelanger Arbeit so umfassend recherchiert und trotz meiner mangelnden praktischen Erfahrung so kreativ erledigte, dass man bei Westbury, Hawthorne & Clarke beeindruckt war und sich seinerseits entschloss, zu beeindrucken. Das sollte sich bei einem Jungen, der nicht aus der Gesellschaft stammte, sondern über Leistungsstipendien an die Prep-School und nach Harvard gelangt war, nicht als allzu schwierig erweisen.
Eines Wintertages, es war im letzten Jahr des Studiums, wurde ich in das Büro des Dekans gebeten. Ich wusste nicht, was Gegenstand dieser Besprechung sein sollte. Prüfungen standen kurz bevor und ich hatte weiß Gott Besseres zu tun, als in einem der schweren, mit rotem Leder bespannten Sessel des mit dunkeln Eichenpaneelen verkleideten Vorzimmers meine Zeit zu verschwenden. Nachdem ich fast eine Stunde in dem zugigen Raum gewartet und mit dem Gedanken geliebäugelt hatte, mich unter einem Vorwand zu entschuldigen, ließ mich der Dekan in sein geräumiges, von einem prasselnden Kaminfeuer erwärmtes Büro bringen.
„Mr. Meyers. Wie schön Sie zu sehen. Treten Sie näher.“
„Vielen Dank, Sir.“
„Ich hoffe, wir haben Sie nicht zu lang warten lassen?“
„Aber nein, keineswegs.“
„Recht so, ganz recht. Ich möchte Sie gern zwei alten Freunden von mir vorstellen, die seinerzeit auch das Vergnügen hatten, in unseren Mauern Jus zu studieren. Mein Freund Charles hier wird Ihnen möglicherweise nicht unbekannt sein und Lawrence, der dieses kleine Treffen arrangiert hat, hält sie für vielversprechend“, sagte der Dekan und stellte mich zwei älteren Herren vor.
Obwohl ich schon damals üblicherweise nicht um die rechten Worte verlegen war, war ich für einen kurzen Moment sprachlos. Der Herr zur Linken des Dekans war niemand anderer als Charles Carolus Dryden, ein Mitglied des obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, das anlässlich einer Vortragsveranstaltung in Boston weilte und der Einladung zu einem Abstecher nach Cambridge gefolgt war, um alte Freunde zum Mittagessen zu treffen. Der Herr zur Rechten erwies sich im weiteren Verlauf des Tages als noch wesentlich bedeutsamer für meine Karriere. Der Kontrast zwischen den beiden hätte nicht deutlicher ausfallen können.
Justice Dryden, 64 Jahre alt, war mit etwa 1,95 m ein wenig größer als ich. Er hatte ein Gesicht von altem Leder, das in unzählige Falten zerklüftet war, kurz geschorenes graues Haar und schelmische, freundliche Augen, die sich hinter einer dicken,
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