Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
samtweicher Stimme und simulierte Gekränktheit, „wie stellst Du mich denn dar? Unser junger Freund hier ist nicht Dr. Faustus.
Und ‚Ritter der Gerechtigkeit‘?“, er lachte schnaubend. „Unzeitgemäße Donquichotterie, wenn Du mich fragst – ebenso veraltet wie dieser kleine Ring, den Du da am Finger trägst. Siegelst Du etwa Deine Urteile mit dem Ding?
Ein Wappenschild passt ebenso wenig in unsere moderne, nicht mal dreihundert Jahre alte Republik wie Ritter und ihre Ideale – oder besser: diejenigen Verblendungen, die ohnehin nur in schlechten Romanen existiert haben.
Wem dienten Ritter denn eigentlich? Nicht einem durch das Volk legitimierten Präsidenten. Nein: Der machtpolitisch motivierten Gewalt der Päpste gegen friedliche Menschen. Zum Glück sind solche Nachtmahre der Intoleranz und Unterdrückung im Leuchtfeuer der Aufklärung verbrannt, mit dem der Mensch die Dunkelheit des Mittelalters hinweg gefegt und sich ein für alle Mal auf seine eigenen Füße gestellt hat, auf den harten Boden der greifbaren Realität.
Nebulöse Ideen haben hier keinen Platz. Die Gerechtigkeitsidee, so schön das Wort ‚Gerechtigkeit‘ klingen mag, besitzt keinerlei Erkenntniswert. Sie führt uns in der Praxis nicht weiter. Wer ist es denn, der das Gleichgewicht und die Freiheit in dieser Gesellschaft tatsächlich garantiert? Ich sage es Dir: Wir sind es.
Recht und Freiheit leben, wie Du am besten weißt und selbst unzählige Male betont hast, von der Auseinandersetzung, vom Kampf um die bessere Meinung und so auch um die bessere Rechtsauffassung. Wenn jeder in diesem Kampf seine ureigenen Interessen konsequent vertritt, wird am Ende das beste Ergebnis für alle erzielt.
Die gierigen Halsabschneider, als die Du unsere Mandanten karikierst, nutzen lediglich den Freiraum, den unsere Verfassung verbürgt. Es ist nicht nur legitim, für sie die Grenzen der Beschränkungen auszuloten, die uns die Gesetze auferlegen, es ist geradezu eine zwingende Notwendigkeit. Nur soweit die Gerichtsbarkeit einen Fall rechtskräftig entschieden hat, ist die Rechtslage klar – zumindest, bis der Gesetzgeber erneut tätig wird oder die Gerichte die Rechtsprechung selbst ändern.
Wir sind die Söldner in diesem Kampf, Charles. Was schadet es, wenn wir ihn nur aufnehmen, weil er uns den einen oder anderen Dollar auf die Konten spült?
Weit mehr als durch die Nutzung steuerrechtlicher Gestaltungsspielräume, wird unser Gemeinwesen durch das Ausgabeverhalten so mancher Politiker und Amtsträger belastet.
Warum sind denn die Menschen nicht bereit, auch nur einen Cent an Steuern zu viel zu zahlen? Es ist nicht primär die Gier, wie Du behauptest , mein lieber Freund. Viele unserer Mandanten sind bereit, sich von Ihrem Geld zu trennen, wenn der gute Zweck sie überzeugt. Sie gründen gemeinnützige Stiftungen oder spenden jedes Jahr beachtliche Summen. Was sie stört, ist öffentliche Misswirtschaft und die mangelnde Anerkennung ihres Beitrags zum Staatswesen.“
Als Hawthorne den Dekan und mich im Anschluss an das Essen mit seiner silbernen Bentley-Limousine, die er selbstverständlich nicht selbst steuerte, am Campus absetzte, hielt er mich am Unterarm zurück. Sein Griff war überraschend fest für einen in die Jahre gekommenen Herrn und ich rede mir manchmal ein, dass ich mich damals unter keinen Umständen daraus hätte befreien können.
„Mögen Sie lieber den Blick über den Fluss oder auf den Park?“, erkundigte er sich.
„Kommt darauf an, Sir. Von welchem Park oder Fluss sprechen wir, wenn ich fragen darf?“
„Sie werden für uns arbeiten, Junge. Und wir wollen Ihnen doch eine Wohnung besorgen, die Ihnen zusagt, nicht wahr? Ich gehe zwar davon aus, dass Sie etwas erreichen und Ihre Zeit nicht mit dem Ausblick vergeuden wollen, aber ich denke, wir sind uns einig, dass es einem Mann gut tut, wenn er weiß, was er hat und wer er ist.“
Ich war nicht sicher, welche Antwort er darauf erwartete. Also sagte ich nur:
„Ich freue mich sehr, Sir. Sie werden Ihre Entscheidung nicht bereuen.“
Damit war mein Schicksal besiegelt. Ich würde in Hawthornes Armee eintreten.
4. Kapitel
Als sich um 8.52 Uhr die Türen des Aufzugs im 53. Geschoss öffneten, tauchte ich ein in eine Welt der Betriebsamkeit. Durch das großzügige, mit grauem Granit ausgekleidete Foyer und die Flure bis zu meinem Büro wimmelten Sekretärinnen und Büroassistenten, die vor mir die Köpfe neigten und an mir vorbeihuschten, Kollegen, die
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