Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
für die ganze Familie, sie träumte auch schreckliche Dinge und lief neuerdings dauernd im Halbschlaf auf dem Maidan herum. Kehkashan setzte sich lieber auf die Bank zwischen die anderen Angeklagten und murmelte Gebete, bis sie endlich wieder nach Hause fahren und mit dem Rest der Familie Pläne für neue Geldbeschaffungsmöglichkeiten schmieden durfte. Die Husains lebten inzwischen, wie Mirchi es nannte, nur noch »von der Hand in den Mund«.
Die Idee, das Müllgeschäft in Saki Naka neu aufzuziehen, hatten sie fallenlassen. Die Bude da hatte mehr Miete verschlungen, als Abdul einnahm. Deshalb fuhr er jetzt tagsüber mit der dreirädrigen Klapperkiste einen Slum nach dem anderen ab, auf der Suche nach Aufträgen für den Transport von anderer Leute Müll zu Recyclingfirmen. Mirchi nahm jeden Job an, den er kriegen konnte, und handelte nebenbei in Annawadi noch heimlich mit Müll, wenn gerade keine Polizei da war. Der jüngere Bruder Atahar schmiss die Schule, kaufte einen gefälschten Ausweis, laut dem er im arbeitsfähigen Alter war, und klopfte beim Straßenbau Steinbrocken klein. Atahar behauptete, es mache ihm nichts aus, nicht mehr zur Schule zu gehen, sondern seiner Familie zu helfen, aber Kehkashan machte es etwas aus, sehr sogar.
Am letzten Tag im Juli hielten Staatsanwalt und Verteidiger ihre Plädoyers. Der Richter sah zu Kehkashan herüber, zum ersten Mal, wie ihr schien, und machte einen dummen Spruch über ihre Burka: »Wissen wir eigentlich, ob das hier überhaupt die Angeklagte ist? Das könnte ja sonst jemand sein. Wer soll das denn erkennen bei
dem
Aufzug!« Als er zu Ende gelacht und die Anwälte von sich gegeben hatten, was immer sie von sich geben wollten, auf Englisch natürlich, schickte der Richter Karam und Kehkashan weg. In anderthalb Stunden sollten sie wiederkommen. Dann werde das Urteil gesprochen.
Beim Hinausgehen hörten sie den Richter sagen: »Ich warte jetzt noch ab, bis die Gehaltserhöhung durch ist, aber dann gehe ich wohl in Pension. Maharashtra ist dermaßen kleinkariert – kein anderer Staat verlangt von Richtern Spesenbelege und Quittungen. In Andhra Pradesh und Gujarat kriegt man eine Benzinpauschale mit dem Richtergehalt überwiesen, da muss man keine Tankquittungen vorlegen …«
Vor dem Gericht war gerade ein Hund von einem Müllwagen überrollt worden. Er starb jaulend, und Kehkashan und Karam beschlossen, zum Warten lieber in die Gerichtskantine zu gehen. Kehkashan setzte sich auf den Boden und starrte auf ihre Schuhe, sie waren neu und aus Plastik und drückten. Sie humpelte barfuß zurück in den Gerichtssaal.
»Was machen Sie?«
Es war die erste und letzte Frage, die der Richter ihr stellte.
»Hausfrau«, antwortete sie. Sie hatte nicht die Absicht, ihm etwas von einem sitzengelassenen Ehemann und Fotos von einer anderen Frau in dessen Handy zu erzählen.
»Und was für Geschäfte betreiben Sie so?«, fragte der Richter dann ihren Vater. Karam hatte ein paarmal in die Hände geklatscht, damit sie nicht so zitterten.
»Ich bin im Plastikhandel, Sir«, erwiderte Karam. Er fand, das klang besser als »leere Wasserflaschen und Einkaufstüten«.
»Nun, Ihretwegen«, hob der Richter an, »hat eine Frau das Leben verloren.«
»Nein,
sa’ab!
«, schrie Karam auf. »Was sie getan hat, hat sie ganz allein getan.«
Der Richter schwieg eine Weile, dann sah er zum Staatsanwalt mit den festgeklebten orangeroten Haaren.
»Tja, was machen wir denn nun mit den Leuten hier? Soll ich sie zu zwei oder zu drei Jahren verurteilen?«
Kehkashan erstarrte. Dann lächelte der Richter und hob die Hände.
»Lassen Sie sie gehen«, sagte er zu Staatsanwalt und Verteidiger.
»Jao, chhod do.«
Er erklärte die Husains für nicht schuldig. Es war vorbei.
Die Urteilsbegründung fiel kurz und bündig aus: »In den Akten findet sich keinerlei Nachweis, dass die Angeklagten die Verstorbene in irgendeiner Weise zum Selbstmord angestiftet hätten. Die Staatsanwaltschaft, die eine Schuld über allen vernünftigen Zweifel hinaus hätte beweisen müssen, hat folglich erbärmlich versagt.«
Und weiter im Text. Der Richter hatte andere Fälle zu bearbeiten und wollte den Zeugenstand leer kriegen, in dem Kehkashan und ihr Vater wie festgeklebt verharrten. »Sie können gehen«, sagte der Verteidiger zum zweiten Mal und mit mehr Nachdruck, und endlich stürmten Kehkashan und ihr Vater aus dem Saal.
Jetzt stand nur noch Abduls Verfahren vor dem Jugendgericht aus – das Urteil
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