Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
sofort zu einer therapeutischen Pferdefarm gebracht. Die Schlagzeile am nächsten Tag lautete: »Pferde gerettet!«
Dann konzentrierten sich die hartnäckigen PAWS -Aktivisten auf die juristische Aufarbeitung. Die Polizei von Sahar, die mit dem früheren Slumlord Robert jahrelang profitable Beziehungen gepflegt hatte, hielt es für unnötig, eine Anzeige wegen Grausamkeit gegen Tiere aufzunehmen (»Täter bleibt unbehelligt!«). Also gingen die Tierschützer mit ihrer Fotodokumentation zum Polizeichef von Mumbai. Und schließlich wurde gegen den früheren Slumlord und seine Frau ein Strafverfahren eröffnet. Sie hatten gegen einen Paragraphen zum Schutz von Tieren vor Grausamkeit verstoßen, weil sie ihre vierbeinigen Schutzbefohlenen nicht artgerecht mit Futter und Wasser versorgt und gepflegt hatten.
Endlich hielt die Gerechtigkeit mal mit aller Macht Einzug in Annawadi. Dass sie ausgerechnet Pferden zugutekam, fanden Sunil und die anderen Straßenjungen allerdings erstaunlich.
Und dabei hatten sie nicht mal die nie geklärten Todesumstände von Kalu und Sanjay im Hinterkopf. Die Jungen in Annawadi hatten längst die schlichte Wahrheit geschluckt, dass ihr Leben in einer rasant modernisierten und boomenden Stadt wie Mumbai lediglich ein Störfaktor, den man am besten auf engstem Raum wegsperrte, und ihr Tod vollkommen bedeutungslos war. Sie staunten nur über das ganze Brimborium um Roberts Pferde, denn ihrer Meinung nach waren sie die Geschöpfe mit dem meisten Glück und der liebevollsten Pflege im ganzen Slum.
Die Tierschützer waren nur ein paar Leute, aber sie arbeiteten gut zusammen und hatten durchgesetzt, dass ihre Wut über die Pferdequälerei Gehör fand. Auch in Annawadi war jeder auf irgendetwas wütend, das schlecht war und behoben gehörte: auf den seit numehr drei brutalen Monaten herrschenden Wassermangel; auf die Anträge für Wahlscheine, die im Wahlbüro versandeten; auf die miesen öffentlichen Schulen; auf windige Subunternehmer, die mit dem Geld ihrer Tagelöhner verschwanden. Abdul war einer der vielen Bürger von Annawadi, die wütend auf die Polizei waren. Sein heimlicher Trost waren inzwischen nächtliche Gedankenspiele, wie man die Polizeiwache in die Luft jagen könnte. Aber Slumbewohner waren kaum je
gemeinsam
wütend – nicht einmal auf die Flughafenbetreiber.
Stattdessen gaben ohnmächtige Individuen anderen ohnmächtigen Individuen die Schuld an allem, was ihnen fehlte. Manchmal versuchten sie, sich gegenseitig aus dem Weg zu räumen. Manchmal räumten sie dabei sich selbst aus dem Weg, wie Fatima. Wenn sie Glück hatten, wie Asha, verbesserten sie ihr eigenes Los dadurch, dass sie anderen armen Leuten alle Lebenschancen zunichtemachten.
Was hier in Mumbai allmählich zutage trat, trat auch anderswo zutage. Im Zeitalter der globalen Marktwirtschaft wurden Hoffnungen und Kümmernisse nur im engen eigenen Umfeld wahrgenommen, und das trübte den Sinn dafür, dass im Grunde alle in derselben Zwickmühle steckten. Arme Leute taten sich kaum je zusammen, eher konkurrierten sie erbittert um irgendeine Beute, die ebenso mager wie schnell vergänglich war. Die Zwistigkeiten der Unterstadt machten allenfalls hauchfeine Knitter in das Gewebe der Gesamtgesellschaft. An den Toren der Reichen wurde höchstens gelegentlich mal gerüttelt, gestürmt wurden sie nie. Die Politiker richteten sich weiter an der Mittelschicht aus. Die Armen richteten sich gegenseitig zugrunde, und so marschierten die grandiosen Städte der Ungleichheit überall auf der Welt ziemlich friedlich weiter voran.
Im Juni, als die Regenzeit begann, rief der Richter, der jetzt für den Prozess gegen Vater und Tochter Husain zuständig war, weitere Zeugen auf. Er hieß C. K. Dhiran, hatte knochige Hände und schläfrige Augen hinter der Brille, und er peitschte seine Eilverfahren noch energischer durch als seine Vorgängerin. Auf dem Weg zu seinem Saal im obersten Stock des Gerichtsgebäudes blickte Kehkashan zu einem kleinen Fenster, durch das man nasse Ziegeldächer und dahinter das Arabische Meer sehen konnte.
Was sollte das denn bringen, wenn sie sich noch einmal anstrengte, die Gedanken eines Richters zu lesen? Sie war noch immer geschwächt von der Gelbsucht und der Anspannung, und je mehr Wochen vergingen, desto zweckloser schienen ihr alle Versuche zu begreifen, was da geredet wurde, oder zu erahnen, ob sie und ihr Vater ins Gefängnis mussten oder nicht. Ihre Mutter war doch schon ängstlich genug
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