Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
davonfahrenden LKWs lachend hinterher. So viel Unverfrorenheit war doch erfrischend.
Die Eunuchen, Migranten aus Tamil Nadu, fanden zwar keine großen Unterschiede zwischen den Parteien, aber sie wollten unbedingt auch wählen gehen. Das Problem war nur, dass die Anträge von Migranten und anderen verachteten Minderheiten manchmal von den örtlichen Wahlamtsmitarbeitern nicht bearbeitet wurden. Während Asha und ihr Mann sogar zwei Wahlscheine und ID -Nummern hatten, also je zwei Stimmen für verschiedene Wahlbezirke, mussten viele nicht in Maharashtra gebürtige Annawadier zusehen, wie sie an ihre eine kamen. Zehrunisa und Karam Husain hielten den Rekord im Slum, was den faktischen Entzug des Wahlrechts betraf, sie versuchten seit sieben Jahren vergeblich, sich in die Wählerlisten eintragen zu lassen.
Die ausgeschlossenen Bürger von Annawadi schätzten politische Teilhabe nicht etwa, weil sie sie für ein wirksames Instrument für soziale Gleichheit hielten. Für sie war der Akt der Stimmabgabe die Hauptsache. In diesem Augenblick nämlich waren Slumbewohner, die oft nur wegen des Ortes kriminalisiert wurden, an dem sie lebten, und der Arbeit, die sie taten, weil sie dort lebten, mit jedem Bürger Indiens gleichgestellt. Wenn sie es auf die Wählerlisten schafften, waren auch sie Staatsbürger mit allen Rechten.
Der größte Eunuch verbeugte sich und hockte sich zu Ashas Füßen. »Frau Lehrerin«, sagte er, »wir haben uns vor einem Jahr auf dem Amt eintragen lassen, aber wir haben noch immer keinen Wahlschein. Wir haben alles Nötige getan, aber bisher nichts. Und die Wahl ist doch bald. Könnten Sie unsere Anträge an die richtigen Leute weiterleiten und denen sagen, sie sollen uns unsere Stimmzettel geben?«
Asha nahm einen Spiegel zur Hand.
Der Eunuch hustete. »Können Sie uns helfen? Frau Lehrerin?«
Manju runzelte die Stirn. Ihre Mutter führte sich auf, als ob die Eunuchen gar nicht da wären. Asha nahm eine Tube Gesichtscreme und rieb sich in aller Ruhe das Gesicht ein. Sie schüttete sich Puder in die Hände und tupfte ihn auf die Wangen. Sie machte sich fein, sie wollte anscheinend irgendwohin.
»Was denn! Die schminkt sich ja!«, zischte einer der Eunuchen etwas zu laut einem anderen zu. Aber Asha hörte es nicht, sie war offenbar längst unterwegs zu diesem Irgendwohin.
Asha hatte den Slumbossjob hingeschmissen. Sie hatte die Schnauze voll von Politik. Und von Eunuchen ohne Wahlrecht und all den anderen Bewohnern von Annawadi, kurz: »von dem ganzen Kleinkram, wegen dem ich dauernd durch die Gegend rennen soll«. Ob die Husains in den Knast wanderten oder ein ganzer Slumweg an Tuberkulose krepierte oder Fatimas Geist ihr Gespuke langsam öde fand und anfing, eigenhändig die Klos zu putzen, die es dringend nötig hatten: alles egal. Gut möglich, dass Asha selbst auch in diesem Slum leben musste, zumindest im Augenblick noch. Aber eigentlich gehörte sie jetzt zur Oberstadt, als Direktorin eines Wohltätigkeitskonzerns, eines philanthropischen Vereins mit einem städtischen Gewerbeschein und bald vielleicht mit sogar ausländischen Spendengeldern. Sie war eine Respektsperson im Land des schönen Scheins und zufällig gerade sehr in Eile wegen eines Rendezvous.
»An der Tanksäule«, hatte der Mann am Telefon gesagt. »In dem rosa Hauskleid, das ich so mag.«
Und so ging Asha lächelnd hinter den Spitzenvorhang und wickelte sich einen eleganten, schwarz-weißen Seidensari um den Körper. Das war der, den
sie
mochte. Die Frau, die sie geworden war.
»Du siehst gut aus«, sagte Manju nach eingehender Musterung. »Besser als in Pinkrosa.«
»Oho, schick«, pflichtete ihr einer der Eunuchen mürrisch bei, während die neue Asha in die Dunkelheit hinaustrat.
17. Eine Schule, ein Krankenhaus, ein Kricketfeld
M itte Mai waren die Stimmen ausgezählt. Die reformorientierten Eliten waren am Ende doch nicht zur Wahl gegangen. Die meisten angestammten Abgeordneten waren wiedergewählt worden, sie schickten ihrerseits den alten Premierminister wieder ins Amt, und die versprochenen radikalen Reformvorhaben für Regierung und Verwaltung verschwanden still und leise in der Schublade. Ein paar Wochen später fuhren die ersten Bulldozer an den Rändern von Annawadi herum.
Die schön-unverwüstlich-schöne Wand auf der Airport Road wurde abgebaut, der Klärteich, der Denguefieber und Malaria in den Slum gebracht hatte, wurde in nur zwei Tagen zugeschüttet und die gewonnene Fläche zwecks neuer Bebauung
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